Eine glücklich absolvierte Programmreihe der Festwochen ist immer mehr als die bloße Summe ihrer theatralischen Einzelteile. Festwochen- Saisonen wie die insgesamt doch recht durchwachsene des Jahrgangs 2006 haben immer auch ideologisches Gepäck aufgeladen. Festivals wie das dick verpackte Wiener sollen Strahlkraft beweisen: Standortsicherung leisten, die Selbsteinschätzung von der "Theaterstadt", in der die Sonne der Vergnügungssucht angeblich nie untergeht, befördern helfen.

Heuer hatte sich die zwischendurch verreist gewesene Schauspielchefin Marie Zimmermann im vorletzten Jahr ihrer Verantwortung den beiden Jahresjubilaren (nicht) zugewandt. Freud und Mozart reagierten als Poster- und Sitzkissen-Starlets unterschiedlich indigniert, das heißt augenverdrehend auf die nachholende Besitzergreifung durch beflissene Adepten. Die Psychoanalyse als aufblasbare Sitzhilfe – das mag auch den Status der Bühnenkünste, die doch von der Verwirrung je unterschiedlich "mündiger" Subjekte handeln, recht gut beschreiben.

In Wahrheit hat Zimmermann ein kolossales Täuschungsmanöver in Szene gesetzt: Ihr Blick auf zwei Antipoden, die beide in spektakulär unterschiedlichem Maße die Erzählweisen des bürgerlichen Subjektwerdung vorangetrieben haben, um die solcherart geadelte Spezies auch gleich wieder ihres trügerischen Friedens zu berauben – er glitt zwischen den beiden gnadenlos hindurch.

ewiss: Es gab eine Reihe Mozart-Opern zu bestaunen: großteils Zeugnisse versiegender szenischer Erfindungskraft. Man kann sogar Luc Bondys vorzügliche Uraufführungsinszenierung von Jon Fosses Totenermunterung Schlaf als allerletztes Gespensterballett auffassen. Die große Schaubühnen-Duse Edith Clever vermittelte als Fosses "alte Frau" noch im Schamanismus ihrer unerklärlichen Greisinnenfallsucht mehr Wahrheiten über 60 Jahre Nachkriegsmentalität als ein rundes Halbdutzend Nackter in Jürgen Goschs Macbeth.

Und doch vermochte die begrüßenswerte Befreiung von selbstverfertigten Fesseln nicht über die spürbare Verwischung der zugrunde liegenden Konturen hinwegzutrösten. Im globalen Weltdorf gibt es Erzählungen von einer Dringlichkeit, die jede Debatte über Sinn und Nutzen ästhetischer Dafürhaltung absehbar zunichte machen.

Township Stories sind, ungeachtet ihrer jeweiligen Qualitäten, Lebenszeugnisse, die man früher einmal vielleicht "vital" genannt hätte. Dergleichen Gönnerhaftigkeit verbietet sich heute aus gutem Grund. Nur fehlt wie zum Trotz auch jede Einbettung, die aus dem punktuellen Auseinanderklaffen des Wohlstandsgefälles, aus der Ungleichzeitigkeit der Welterfahrungen mehr machte als die Einsicht in ein wohlig seufzendes "So ist es!".

Die Erfahrung von "Differenz" gehört zu den letzten unabgegoltenen Herausforderungen eines selig in sich selbst kreisenden Kulturbetriebes. Dazu passt nun auch die unbestätigte Meldung, dass Stefanie Carp, die während Marie Zimmermanns saisonalem Ausflug zu "Theater der Welt" 2005 die Schauspielagenden bereits einmal versah, Zimmermann wiederum nachfolgen soll.

ie Spatzen hatten es schon länger von den Dächern gepfiffen. Intendant Luc Bondys jüngst geäußerte Bekenntnisse zu mehr Strahlkraft und zur Anhebung der Eigenproduktionsziffer passen überdies ins Bild.

Wer, wie die nachmalige Chefdramaturgin der Berliner Volksbühne, für Christoph Marthalers berührende, international allseits bestaunte und begehrte Kindertotenmesse Schutz vor der Zukunft verantwortlich zeichnet, soll den Produktionsstandort auch künftig zum intensiven Ausstoß anhalten. Wien soll wieder mehr sein als ein Zwischendepot, als eine Anlagerungsstätte für mehr oder minder "kurrente" Prachtproduktionen – auch das lässt für die Zukunft einige Mühewaltung erhoffen.

2006 wird als ein Zwischen- oder Übergangsjahr in die einschlägigen Annalen eingehen: mit satten 91,50 Auslastungsprozentpunkten, mit allerlei Stadteroberungsepisoden (Into the City), mit Liebesbriefsammlungen und nachbürgerlichen Erfahrungskonzentraten (siehe Macbeth).

chön, dass Claus Peymanns gelegentliche Wien-Ausflüge auf die Thomas-Bernhard-Brettl- Bühne noch immer zahlreichen Wienern die Frühsommernächte versüßt haben. Fantastisch, dass mit Simon Stephens' Motortown aus London ein Sichtfenster geöffnet wurde auf zeitgenössische Kriegserfahrungen. Schön aber auch, dass sich Bondy in Viol, Botho Strauß' bluttriefendem Shakespeare-Kommentar aus Paris, einer genuinen Urangst stellte: Wie bringe ich "unverfälscht" zum Ausdruck, was in uns schmerzberuhigten Wohlstandsbürgern nach Übersteigerung des Grauens lechzt?

"Relevanz" wird den Festwochen auch dann wieder verstärkt zuwachsen, wenn sie erkennen: Die wirklichen Abgründe der Niedertracht findet man zu allererst – bei uns daheim! (DER STANDARD, Printausgabe, 21.6.2006)