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Die moderne Soldatenausbildung zielt darauf ab, gezielt die Tötungshemmung der Soldaten auszuschalten. Der Feind wird als "Ziel"entmenschlicht, auf das im Reflex geschossen wird. Im Bild: US-Marines simulieren Gefangenschaft.

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"Selbst die Blutrache kennt ein Procedere für Verhandlungen durch Verwandte": Dorothee Frank.

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Dorothee Frank: "Menschen töten". 280 Seiten/19,90 EUR. Walter Verlag, Düsseldorf, 2006. --> derStandard.at verlost 5 Exemplare des Buches

Albumcover: Walter Verlag
Wien - "Menschen töten" lautet lapidar der Titel des Buches von Dorothee Frank. Gerade in der Schlichtheit jener simplen Feststellung (das Töten als Konstante des menschlichen Verhaltens-Repertoires) gründet das Erschrecken, das die Ö1-Journalistin vor drei Jahren veranlasste, Menschen zu befragen, die getötet hatten. Mörder, Serienmörder, Bürgerkriegsteilnehmer, Terroristen, Soldaten, Henker - auch einen Staatsanwalt, der in den USA Todesstrafen verantwortet. Der Versuch einer vorurteilsfreien Annäherung an die Tatsache menschlichen Tötens. Mit der Autorin sprach Cornelia Niedermeier.

STANDARD: "Jede Gesellschaft hat einen blinden Fleck, einen Bereich, in den sie nur unter großen Schwierigkeiten zu blicken vermag", zitieren Sie den US-Militärpsychologen Dave Grossman. "Heute ist dieser blinde Fleck das Töten, so wie es vor hundert Jahren die Sexualität war."

Dorothee Frank: Man sieht das Töten in unserer Gesellschaft nicht. Und was man nicht sieht und kennt, unterliegt Mystifikationen.

STANDARD: Das gesellschaftliche Tabu des Tötens steht so, schreiben Sie, nicht in der Bibel. Statt Luthers "Du sollst nicht töten" heißt die genaue Übersetzung des Fünften Gebots aus dem Hebräischen "Morde nicht".

Frank: Diese ganzen Gesetze und Handlungsanweisungen sind natürlich auch aus einer anderen Zeit. Steinigen durfte man. Die Bibel ist ja ein Kompendium, dessen verschiedene Schichten aus ganz unterschiedlichen Epochen und Kontexten kommen.

STANDARD: Weit gehend unabhängig von religiösen und politischen Kontexten scheint das Töten und Morden eine menschliche Konstante?

Frank: In der gegenwärtigen Sozialpsychologie und Verhaltensbiologie wird das Triebmodell - also, wir sind Tiere und der Trieb zu töten ist Teil unserer Natur wie der Sexualtrieb, und wenn die Tabus stark sind, muss er immer wieder kollektiv zum Ausdruck kommen - infrage gestellt.

STANDARD: Genozide existieren dennoch. Und der viel zitierte Lustfaktor des Tötens?

Frank: Es gibt diese Komponente, die etwa Eberhard Schorsch in seinen klassischen sozialpsychologischen Studien "passageren Sadismus" nennt. Dass ein großer Teil der Normalbevölkerung sadistische Anteile hat, die sehr klein sind - also etwa, wenn von einer Folterung berichtet wird und bei allem Grauen, das die Erzählung auslöst, doch eine winzige Komponente der Neugier oder vielleicht Lust existiert. Das ist etwas ziemlich Normales.

Wenn nun aber die Propaganda die sadistische Tat als positiv, sogar als gesellschaftliche Notwendigkeit darstellt, ihre Ausübung moralisch stützt, das der Kanon ist, der Mainstream - dann gibt es eine Art blutigen Karneval. Dann kann das überschwappen. Aber dieser passagere Sadismus eskaliert nicht von selbst. Man muss das organisieren. Ein Völkermord ist eine lange propagandistisch vorbereitete, logistische Operation. Das ist der Zynismus.

STANDARD: Auch der Wille, nicht zu töten, ist menschlich. Sie berichten von Untersuchungen, wonach 75 Prozent der Frontsoldaten im Zweiten Weltkrieg, wenn sie unbeobachtet waren, ihre Waffe nicht auf den Gegner gerichtet haben sollen. Moderne Soldatenausbildung, etwa in den USA, arbeitet gezielt daran, diese Skrupel zu reduzieren.

Frank: Die Konditionierung zielt darauf ab, das Schießen zum Reflex zu machen: In der modernen Ausbildung schießt man nicht länger auf Schießscheiben, sondern auf eine lebensechte Figur - und es muss geschossen werden, bevor man denken kann. Die Figur taucht nur sehr kurz auf. Trifft man, ist das mit Privilegien verbunden, mit Ausgang und Belobigungen. Während Nichttreffer kleine Schlechterstellungen nach sich ziehen. Mit den Folgen dieser Ausbildung werden die Soldaten allein gelassen. Sie handeln im Reflex. Aber die Wirkung ihrer Tat setzt später ein. Irgendwann haben sie Zeit, nachzudenken.

STANDARD: Der Moralkodex ihrer Erziehung beginnt zu wirken -obwohl sie "für den Staat" getötet haben? Sie kehren in eine Gesellschaft zurück, die sich über ein "wir töten nicht" definiert.

Frank: Es gibt zwar die Entlastung: Sie werden dekoriert für Leistungen fürs Vaterland. Aber wenn man heimkommt und eine Tötungsmaschine war, der andere ein entmenschlichtes "Ziel", dann hat das Nachwirkungen. Und diese posttraumatischen Belastungsstörungen werden nicht anerkannt. Offiziell heißt es, die posttraumatischen Belastungsstörungen rühren nur davon her, dass auf sie selbst geschossen wurde. Es ist in der Militärhierarchie nicht beliebt, anzuerkennen, dass diese Form der Ausbildung psychische Folgen nach sich zieht.

STANDARD: Neben dem Töten fällt in Ihrem Buch auch der erstaunliche Wille zur Kommunikation auf. Opfer wollen mit Tätern reden, Täter mit Opfern.

Frank: Selbst bei der Blutrache, erzählte mir ein Kosovo- Albaner, gibt es gemäß dem alten albanischen Recht ein Procedere für Verhandlungen. Und zwar verhandeln nicht die direkten Verwandten von Täter und Opfer, auch nicht die nächsten Verwandten, sondern entfernte Verwandte - bis ins neunte Glied. Sie können Abordnungen bilden. Es kann zu einem Beschluss kommen, sich nicht zu rächen.

STANDARD: Der Vorläufer der modernen Diplomatie?

Frank: Diese Möglichkeit ist in der Tradition der Blutrache zumindest inkludiert. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.7.2006)