Paulus Hochgatterer:
"Die Süße des Lebens". Roman.
€ 20,50/294 Seiten. Deuticke, Wien 2006.

Buchcover: Deuticke
An einem Abend zwischen Weihnachten und Silvester wird ein alter Mann getötet. Seine siebenjährige Enkelin Katharina, mit der er gerade noch "Mensch ärgere dich nicht" gespielt hat, findet ihn bei der Scheune: "Wo der Kopf hingehört, ist er nicht. Selbst ein Stöpsel hat dort einen Kopf. Das Kind beugt sich tief hinunter. Es ist nicht so, dass der Kopf fehlt. Wo er sein sollte, rund aus dem Boden ragend, ist etwas Flaches. Das Flache liegt in einer Grube und ist ganz schwarz. Das Kind streckt den Zeigefinger vor und tupft in die Mitte, dorthin, wo es ein wenig silbrig schimmert." Das erste, mit "Null" überschriebene Kapitel des neuen Romans Die Süße des Lebens belegt einmal mehr, dass Paulus Hochgatterer ein Meister der konsequenten Emphase ist; die Folge weist ihn als facettenreichen, großen Erzähler aus.

Zwei Kegel hält Katharina in der Hand, ihren gelben, den "Stöpsel", und den blauen "Soldaten" des Großvaters, der eine Vier gewürfelt hatte, bevor es an der Tür läutete. "Wenn der Großvater eine Vier wirft, ist er tot", hatte die Kleine an ihren Stöpsel gedacht, der auf dem Spielfeld vor dem Eingang zum Stall stand, in Gefahr geschlagen zu werden. Nachdem sie auf den zermalmten Kopf getupft hat, geht die Kleine nach Hause. "Vier", sagt sie, "vier. Ich hab dich." Ihr Zeigefinger ist "vorne ganz rot. Der Stöpsel hat seinen Kopf noch, der Soldat auch." Sie verschließt ihre Hand über den beiden Kegeln und verschließt ihren Mund. Als sie nach Tagen endlich wieder spricht, tragen ihre zwei Wörter zur Lösung des Falls bei, und im Rückblick erhält "der Soldat" eine weitere Bedeutung.

In beeindruckender Tiefenschärfe und Präzision verschränkt Paulus Hochgatterer die Ebenen in seinem Roman. Ohne einen erzählerischen Zeigefinger zu bemühen, schafft er aus sieben wechselnden Perspektiven, Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen sowohl den packenden Thriller-Spannungsbogen vom Mord zum Mörder als auch eine beunruhigende Seelenlandschaft aus einer Provinz des Menschen. Und im Hintergrund die Frage, wie wir aus Voraussetzungen, Indizien, Aussagen eine Wirklichkeit erschließen oder konstruieren, wie wir sie mitteilen, wie viel von ihr wir teilen.

Ein Psychopanorama konzentriert sich aus der Sicht des Seelenarztes Horn, der die geschockte Katharina behandelt, im Krankenhaus und auf seinen Wegen durch die Stadt. Eine Reihe ebenso knapp wie treffend gezeichneter Charaktere bevölkert dieses Furth am See. Es ist ein österreichischer Mikrokosmos, in dem Störungen und Gewaltausbrüche neben sanfteren Lebensäußerungen zu Hause sind, sich allerdings kaum jemand so recht heimelig fühlt, weder in sich selbst noch in der Umgebung. Ein Mann misshandelt Frau und Töchter, eine junge Mutter sieht in ihrem Baby den Teufel, eine Studentin meint, sich in ihrer Einsamkeit zu verlieren . . .

Wer so etwas mache, fragt eine Polizistin angesichts furchtbar zertrümmerter Bienenkästen. Kommissar Kovacs, der lieber vom verschneiten Gastgarten des Marokkaners Lefti auf den See oder durchs Fernrohr zu den Sternen schaut, nun aber im Mordfall ermitteln muss, antwortet: "Ein Mensch, der ein Problem mit der Süße des Lebens hat." Es kommen also viele infrage. Die meisten Beziehungen, denkt Horn in seiner Ambulanz, fußen "in Wahrheit auf der Übereinkunft, nichts miteinander zu tun haben zu müssen." Er war Kinderpsychiater geworden, um sich ein Stück der Einfachheit zu retten, die er im Gut-Böse-Schema der Kasperlfiguren findet, heißt es in der Mitte des Romans, auch hier mit den Worten "in Wahrheit" bestärkt.

Eine Wahrheit kennen, suchen viele, besonders der Kommissar und der Psychiater. Alle jedoch können täuschen, sich und andere. Beim pensionierten Briefträger, dem passionierten Imker Fux, sieht Horn ein altes Foto von jungen Soldaten und bei einem von ihnen anstelle des Gesichts einen weißen Fleck. Wie das Ende von Die Süße des Lebens zeigt, liegt er falsch mit seiner Interpretation, dass eben der Honigmann Fux das Bild immer wieder betrachte und mit dem Finger jedes Mal auf sein Gesicht tappe, "als müsse er sich vergewissern, tatsächlich dort gewesen zu sein. Im Lauf der Zeit löscht er sich auf diese Weise aus." Die Vorstellungen von Wahrheit und Welt hängen von Standpunkten und Deutungen ab.

Paulus Hochgatterer hat seinen Roman in kluger Konstruktion eben aus verschiedenen Sichtweisen gebaut, die wesentlich mehr ergeben als eine Addition der einzelnen Teile. Während ein Krimi gewöhnlich nahe an der Perspektive einer Figur, meist des Detektivs, erzählt ist, verlagert Hochgatterer mehrmals den Standpunkt und den Ton. Das Eingangskapitel schildert personal, aus dem Blickfeld der Siebenjährigen, den Tod des Großvaters. Mit einem neuen Kapitel bildet jeweils eine andere Person das Erzählzentrum, sodass zunächst die Zusammenhänge überraschen mögen, sodann geänderte Konturen und unerwartete Spannungsbögen erscheinen. Die in Zeiten der Vergangenheit gehaltenen Beobachtungen, Erklärungsversuche sowie Privatszenen des Psychiaters und des Kommissars wechseln mit den Präsensabschnitten eines Paters, der weite Strecken läuft und ungehörige innere Stimmen reflektiert, und eines Buben, den sein gerade aus dem Gefängnis entlassener Bruder zu Gewalttaten treibt. Diese Episoden im Duktus eines Jugendlichen, der sich am Krieg der Sterne orientiert, sind die einzigen in Ich-Form - und als man bei der Lektüre meint, in ihnen die Spur des Täters erkennen zu können, lässt Hochgatterer ein anderes Ich berichten.

Diese prägnante Prosa braucht nicht auf Effekte zu zielen. Mit genau gesetzten Motiven, mit den feinen Überschneidungen und Verbindungen in den sieben Figurenperspektiven schafft Hochgatterer in großer Stilsicherheit eine ganze, hintergründige Welt: von einer kleinen Hand, die tagelang Mensch-ärgere-dich-nicht-Kegel umschlossen hält, bis zu den Sternen, die der Kommissar im Fernrohr sieht. (Klaus Zeyringer/ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 5./6.8.2006)