Im Seebad Sopot wird auf Rivierea-Tradition Wert gelegt, allerdings in polnischer Spielart.

Foto: www.trojmiasto.pl
In Gdynia gehen Fischotter an der Leine, in Sopot ist das Strandhotel ein chinesisches Paradies, und in Danzig spricht man Deutsch.

Die Halbinsel Hel ist weniger Halbinsel als ein dünnes, etwa dreißig Kilometer langes Croissant, das in die Ostsee ragt. An seinen engeren Stellen beträgt die Breite dieses Croissants knapp hundert Meter - und gepflasterte Gehwege verbinden zwei unterschiedliche Sandstrände miteinander: den äußeren Strand, dem Wikingerozean zugewandt, mit Wellen und Gischt, und den inneren Strand, eine geschützte, boddenartige Halblagune mit Teichcharakter, warmem Salzwasser und idealen Windverhältnissen für Surfnovizen.

Hel ist eines von Polens Sommerparadiesen an der Ostsee, vollbesetzt sind die Campinggelände, aber auch Individualisten haben Chancen, an der Nordküste ein einsames Plätzchen zu finden. In den letzten Jahren wagen auch westliche Touristen die Fahrt durch Polens Asphaltkraterstraßen, einfach aufgrund des hohen Charmepotenzials der Ostsee.

Hieß es vor einiger Zeit gelegentlich, man solle doch Polen besuchen, weil das eigene "Auto schon dort" sei, so ändert sich der Spruch in EU-Zeiten: anhand der Ersetzung des Wortes "Auto" durch das Wort "Seele", wie etwa Radek Knapp in seiner "Gebrauchsanweisung Polen" (Piper Verlag 2005) anmerkt. Polen ist definitiv ein Sehnsuchtsland, das näherer Erforschung wert ist, nicht zuletzt im Straßenverkehr, denn: "Die polnische Seele gerät jedes Mal in Wallung, wenn sie ein Lenkrad in der Hand hält."

An der Ostsee sind die traumatischen Erlebnisse der Straßen vergessen, der Sand ist heiß, sogar fast weiß, auf das Mittelmeer fehlen lediglich wenige Grad Wassertemperatur, dafür ist der Erfrischungswert außergewöhnlich hoch. Das Städtchen Hel am äußersten Zipfel, ist nicht wegen seines "Fokariums" bemerkenswert, in dem vier traurige Robben ihre Runden drehen, eher schon wegen des breit gefächerten Angebots an Plüsch-robben und Robbenpuppen an der Waterfront, besonders aber wegen seiner frühprotestantischen Kirche, die mehrfach niedergebrannt und vom Meer aus angegriffen wurde, und in der sich heute das Museum von Hel wie auch der Aussichts-turm des Städtchens befinden.

Man blickt auf die andere Seite, durch das Boddengewässer, in eine einzigartige Bucht: nebeneinander, gleichsam im Schutz des großen Croissants, zeichnen sich die Silhouetten der Arbeiterstadt Gdynia/Gdingen, des Seebads Sopot und der Werftenmetropole Gdañsk/Danzig ab: Alles gemeinsam wird "Trójmiasto" genannt, Dreistadt. Gdynia bietet neben dem interessanten Hafengelände eine Flaniermeile durch den Sand, auf der die eigenwilligen Einheimischen Fischotter an der Leine führen.

Nachmittags bis abends begeben sich jedoch die meisten Besucher 15 Kilometer weiter, in die Altstadt von Sopot, dem Eldorado für Grilllokale, Straßenmusikanten und der größten polnischen Mole. Hier wurden keine Fischotter gesichtet, dafür gingen Katzen an der Leine. Das Auffälligste im Straßenbild sind aber die vielen Bierdosen, die, geöffnet oder als Notration, herumgetragen werden.

Das gezückte Bier ist Norm für den polnischen Mann, es hat nichts Ehrenrühriges und verweist keineswegs auf sozialen Abstieg. Beim Familienausflug ist es nicht außergewöhnlich, sondern eher Zeichen der Emanzipation, wenn die Mutter am Steuer des Kinderwagens eine Bierdose in der Hand hält. Junge Leute nehmen Sonnenbrille, Sonnencreme und ein Plastiksäckchen mit vier Dosen Bier an den Strand. Bier ist hier ein Erfrischungsgetränk, ernsthaft feiernde Polinnen und Polen wenden sich dem Wodka zu - Wodka wird hier "Wudka" ausgesprochen - und trinken meist darauf, dass die Russen von diesem Getränk nichts verstehen.

Im Seebad Sopot wird auf Riviera-Tradition Wert gelegt - allerdings in polnischer Spielart. Hotelpensionen wie das strandnahe "Pensjonat Eden" spiegeln die Eigenwilligkeit polnischer Hotellerie. Viele der Zimmer, angenehm großzügig ausgestattet, verfügen zwar über einen Balkon, dafür haben sie keine Dusche, weder innen noch außen.

Ein lang gezogener Gebäudekomplex an der Küste, das "Zhong Hua Hotel" erscheint zunächst wie ein exotischer Scherz, meint es jedoch völlig ernst: Dort, wo der historische Komplex der Süd- bäder stand, übt man sich im östlichen Lebensstil. Das "Zhong Hua" ist ein chinoisierendes Prunkstück: orientalisches Flair in der alten Holzarchitektur der Jahrhundertwende, ein Clubraum mit Billard, eine Sushibar.

Gleich nebenan, nicht weniger bizarr, steht der ehemalige Leuchtturm, durch eine schmale Stiege besteigbar, aus dessen Fenstern sich ein wunderbarer Blick über die Fußgängerzone bietet. Doch was wäre die Bucht ohne Danzig (polnisch Gdañsk), der deutschesten Stadt außerhalb Deutschlands. Im Zweiten Weltkrieg großteils zerbombt, ist die Danziger Innenstadt mit ihren multiplen Reihen von Fachwerkshäusern schon für sich ein Monument.

Den schönsten Blick bietet der Rathausturm, auf dessen Plattform man sich laut Beschilderung "10 Minuten" aufhalten darf. Vielleicht hat hier einst irgendjemand zu lange "Wudka" getrunken, man könnte es ihm nicht verdenken. Weit unten leuchtet die Glatze des Straßen- gitarristen, auf dessen Schild steht: "Ich bin gesund und sammle auf Bier." Nein, man kann es von oben nicht erkennen, aber das "auf" ist durchgestrichen. Dar-unter steht in viel kleinerer Schrift ein krakliges "für".

Die Hansestadt Danzig hat Museums-charakter, ihre Innenstadt ist zudem einer der wenigen urbanen Flecken Polens, auf denen nicht die allgegenwärtigen Aufschriften Meble, Toalety und Gabinet Stomatologiczny vorherrschen. In den Gastgärten werden hier die Nationalgerichte serviert, Bigos, der Sauerkraut- eintopf mit Fleisch, ukrainischer Borschtsch, russische Pirogen. Am Hafenende, hinter dem historischen Kranhaus, befinden sich Fischbuden mit frischen Tieren aus der Ostsee. (Von Martin Amanshauser, Der Standard/rondo/11/08/2006)