Foto: Süddeutsche Kriminalbibliothek
"Carrie" - mit diesem Buch begann die Karriere Stephen Kings. Das Manuskript des arbeitslosen Englischlehrers und bis dahin gänzlich erfolglosen Autors lag bereits im Papierkorb. Seine Frau fand es, zog es heraus und musste schwere Überzeugungsarbeit leisten, bis King sich entschloss, es doch fertig zu stellen. Schließlich nahm es Doubleday und zahlte 2500 Dollar Vorschuss. Spätere Vorschüsse mögen höher ausgefallen sein, aber keiner bedeutete King je so viel wie dieser allererste. Die Handlung ist so schrecklich und so schlicht, wie man sie nur im Märchen findet. Carrie wächst als einziges Kind einer religiösen Fanatikerin auf, die immerfort das Schwert des Jüngsten Gerichts im Munde führt. Schlechterdings alles ist Sünde, für die Carrie kniend in der Besenkammer büßen muss, besonders dass ihr, die inzwischen sechzehn ist, Brüste wachsen, diese "schmutzigen Kissen". Und leiden muss sie auch in der Schule für ihr unbeholfenes Außenseitertum. Immer gibt es da jemanden, der ihr ein Bein stellt oder Erdnussbutter ins Haar schmiert. Dabei wäre sie so gern einfach ein normales Mädchen wie alle anderen.

Das Buch spricht von jenem Gift, das ausschließlich von Frauen für Frauen bereitet wird. Der Roman setzt ein mit einer Szene von beklemmender Kraft: Nach dem Sportunterricht duschen die Mädchen zusammen, und Carrie, die nicht weiß wie ihr geschieht, bekommt, sichtbar für alle, ihre erste Periode. In einem Ausbruch bösartiger Hysterie wird Carrie von den anderen mit Tampons gesteinigt und bricht zusammen. So erklingt das Grundmotiv des Bluts; und man staunt, mit welcher Beherztheit der junge Mann, der King damals war, in diese heikle weibliche Domäne vorzudringen wagt. Nur einer einzigen Mitschülerin, Sue, tut es hinterher leid, dass sie sich in diesem unseligen Moment hat hinreißen lassen. Sie will es gutmachen und schickt ihren Freund vor: Der soll Carrie zum großen Abschlussball einladen. Wie Carrie dem Angebot erst misstraut, dann ihr Glück nicht fassen kann, wie sie in den wenigen Tagen, die ihr noch bleiben, aufblüht, sich hinter dem Rücken der Mutter ein schönes Kleid näht - das ist auf so peinigend wunderbare Weise geschrieben, wie es selbst Stephen King vielleicht nur dieses erste Mal vermocht hat. Carrie wird Ballkönigin; und im Moment ihres verwirrenden Triumphs stößt ihr die perfid eingefädelte Katastrophe zu.

Es ist das Bild, das sich auch aus der Verfilmung mit Sissy Spacek eingeprägt hat: der Augenblick, wo der Eimer mit Schweineblut auf sie herabsaust und Carrie als ein vom Kopf bis zu den Füßen rotgefärbtes Monstrum auf der Tribüne steht. Nun bricht hervor, was langsam in ihr gereift war, ihre machtvolle telekinetische Begabung. Schule und Stadt gehen in einer Feuersbrunst zugrunde. Das Böse wächst vom Banalen ins Riesenhafte: Davon hat King immer wieder geschrieben. Er weiß, wie man im Leser Affekte weckt, die ihm selbst unheimlich werden. Der Roman endet, wie es Märchen nicht selten tun, in einer Verherrlichung der Rache; der Leser geht mit und sagt am Schluss, wider Willen und besseres Wissen: Recht so! (Burkhard Müller /RONDO/DER STANDARD, Printausgabe, 15.9.2006)