Foto: Wagenbach
Die in Berlin lebende österreichische Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland hat einen ganz ungewöhnlichen Neapel-Roman vorgelegt. Schauplatz des Romans ist zwar das Neapel, das man zu kennen glaubt, die Stadt mit ihren verschiedenen Zeitschichten und Kulturen oder die Stadt der mafiosen Machenschaften und Verbrechen. Der Roman spielt auch mit den entsprechenden Formen, beginnt wie ein erzählter Actionfilm und liest sich stellenweise wie eine detektivische Kulturgeschichte. Aber die geheimen Verweise und Spuren zielen vor allem auf ein Thema: unser Ich. Ungewöhnlich ist der Roman, weil sein Neapel ein Bild unserer Innenwelt ist, ein Terrain, wo überall Verbindungsgänge in Räume der Vergangenheit sich auftun, in eine Unterwelt der Grotten und Labyrinthe.

Identitätsbrüche

Das neapolitanische Bett ist ein Zeit- und Erinnerungsroman. Seine Hauptfigur, Signor Lucio Ignazio, ist in dieser Gedächtnis-Topograf zu Hause. Doch er selbst war bisher ein Meister im Vergessen. Seit einiger Zeit besitzt er ein kleines Hotel in der Altstadt, das Navicella, das er mit drei Frauen, die sich wie Schiffbrüchige zu ihm gerettet haben, führt. Davor liegt eine Geschichte jäher Identitätsbrüche.

Als junger Soldat der Deutschen Wehrmacht hatte er die Front gewechselt und war zu den Partisanen übergelaufen. Nach dem Krieg kam er nach Neapel – und zur Camorra, die ihm weiterhalf. Ein Mann ohne Eigenschaften, mit einer schnellen Intelligenz ausgestattet, zu allem brauchbar, ließ er sich gebrauchen für die verbrecherischen Geschäfte, die er, Ombra, der gesichtslose Schatten, mit der ihm eigenen Verlässlichkeit ausführte.

So wenig wie sein Übertritt zu den Partisanen politisch oder moralisch motiviert war, so wenig war es der Austritt aus der Verbrecherorganisation. Wieder eine neue Identität, die alles abtrennt, was vorher war. Das neapolitanische Bett erzählt die Geschichte dieses Schattens und, wie er ein Gesicht bekommt, indem er sich zu erinnern lernt.Mit feiner Ironie wird diese Neugeburt und Auferstehung des alten Mannes in den Bildern neapolitanischer Kunstwerke gespiegelt oder vom katholischen Kalender begleitet. Maßgeblichen Anteil an dieser Menschwerdung hat eine junge Frau, Anasthasia, also jemand, der dem Namen nach für Auferstehung und Genesung zuständig ist, während die unerlösten Mitglieder der verschiedenen Mafia-Clans Anchise, Latinus, Enea oder Lavinia heißen. Anasthasia sitzt am Ende des RomansamKrankenbett des alten Lucio Ignazio, der nun, nach einem Schussattentat, zu einem klinischen Fall von Gedächtnisverlust geworden ist.

Schmerzvoller Erinnerungsprozess

Sein Leiden ist offensichtlich das seines bisherigen Lebens, und er lernt nun, das Abgespaltene und Begrabene in einem schmerzvollen Erinnerungsprozess zusammenzusetzen. Vielleicht ist dieses letzte neapolitanische Bett in der Klinik auch sein Sterbebett, auf dem er, wie aufatmend, beginnt, in Anasthasia die Tochter als Teil seines Ich anzuerkennen – „,eine Tochter‘, ihre Worte bewegen die Luft, die Luft streicht über seinen kahlen Schädel, von oben, im Spiel von Licht und Schatten gelingt ihm ein Lächeln in diesem Totenschädel, er atmet auf: / ‚Ja – wie eine Tochter – ja.‘“

Um diesen Totenschädel des Vaters und sein „Hauptwehe“, wie Thomas Mann einmal den tief in uns sitzenden Schmerz genannt hat, ist es auch im bisherigen Werk Birgit Müller Wielands gegangen, in einzelnen Sprachbildern des Gedichtbands Ruhig Blut (Haymon, 2002) genauso wie im Prosaband Die Farbensucherin (Haymon, 1997). Dort setzte die erste Erzählung mit dem Urknall ein, auf den sich das Schreiben der Tochter bezieht: „Mein Vater gebar mich mit einem großen Knall. / Es war ein Krachen und Bersten. Die Knochen splitterten, und Blut spritzte die Wohnzimmerwände hoch. Es war ein natürlicher Vorgang, denn er hatte meine Mutter verschlungen. Das alles verursachte ihm sein Leben lang viel Kopfweh. Aber irgendwo mußte ich ja herauskommen, und so zwängte ich mich zuerst aus dem Bauch meiner Mutter in den verbleibenden Restraum des väterlichen Körpers.“

Innerer Sprengvorgang

Das neapolitanische Bett, der Erstlingsroman der Autorin, beginnt mit einem lautlosen Schuss, der in den Körper des Signor Ignazio einschlägt. Der Roman handelt von jenem Moment zwischen „Noch-Leben und Noch-nicht- Tod“, in dem „ein innerer Sprengvorgang eingesetzt“ hat. In diesem Moment, sagt man, läuft noch einmal das Leben ab. Der Roman erzählt es, und sein Erzählen verwandelt die destruktive Gewalt des inneren Sprengvorgangs in ein Bild des Freiwerdens, in die Utopie, dass das Auseinandergerissene in der Erinnerung neu und freier zusammenfinden könnte.

Warum aber meint es die Erzählerin so gut mit diesem Mann? Neben einem unausgesprochenen Grund findet man eine erzählerische Rechtfertigung im Roman selbst. Es hat mit dem Navicella zu tun, dieser kleinen Arche in der Via Spaventa, in welche Ignazio die drei Frauen als Helferinnen aufgenommen hat, drei Geschlagene, gezeichnet von einem Leben in Armut, Gewalt und religiösem Wahn. Sie stehen für das Neapel der Ärmsten, der in der Kindheit Verletzten, für den katholischen und heidnischen Aberglauben, und sie ergänzen den Weg des Erwachens und Sehend-Werdens, den Lucio Ignazio zu gehen angefangen hat.

„Aufwachen, aufwachen, wach auf!“, das ist einer der immer wieder vorkommenden Sätze im Roman, in einem polyfonen Textgewebe, das an die thematische Erinnerungsarbeit der Musik denken lässt und darin einen Gegenentwurf enthält, der aktuell ist in einer Zeit der bedrohten individuellen Erinnerung und des Verlusts der Bilder im Ich. (Hans Höller, DER STANDARD Printausgabe, 16./17.09.2006)