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Und wieder ruft in Christoph Ransmayrs neuem Roman der Berg (den David Sharp hier gerade bezwang), das Eis und die Kälte.

Foto: AP/Jamie McGuinness of Project Himalaya

Christoph Ransmayr, "Der fliegende Berg". Roman. 20,50 € / 359 Seiten. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006.

Buchcover: Fischer
Seit "Morbus Kitahara", seit elf Jahren also, hat Christoph Ransmayr keinen Roman veröffentlicht. In freien Versen und Strophen erscheint nun sein lang erwartetes neues Opus "Der fliegende Berg". Einfach gesagt: Das Buch wäre im gewöhnlichen Satz kaum dicker als 170 Seiten und eine großartig schöne Novelle. In seinen Ausführungen Über das "Erhabene" schreibt Schiller 1793: "Das Erhabene verschafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, wo uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte." Ihren Übergang zu einer "klassischen" Dichtung haben Goethe und Schiller auch in der Form vollzogen, indem sie die "Iphigenie" und den "Don Carlos" aus einer Prosafassung in die gebundene Rede setzten.

Eine gebundene Rede legt Ransmayr einem Iren in den Mund, der als Schiffsmaschinist die Ozeane befahren und mit seinem älteren Bruder Liam die Klippen des heimatlichen Horse Island erklettert hatte. Liam stellt Computer-animationen von kartografischen Werken her, auf seinen Bildschirmen erheben sich "allein nach seinem Befehl" die Berge und verschwinden wieder. Im Internet stößt er auf eine merkwürdige Fotografie von einem geheimnisvollen Grataufschwung zu einem Gipfel im Himalaja, beginnt zu schwärmen und macht sich hartnäckig an die Reisevorbereitungen. Die beiden Brüder brechen nach Osttibet, in das Land Kham, auf, um den mythischen "fliegenden Berg" zu besteigen. Bis zu dem Fuße dieses Phur-Ri ziehen sie mit einem Nomadenclan, in dessen Mitte der Ich-Erzähler eine große Liebe mit der schönen Nyema findet, zugleich Geschichten dieser anderen Welt und die Lebensweise jener Khampas erfährt. Bis die zwei Iren zu hoch hinaus wollen und nur einer zurückkehrt.

"Wir jedenfalls gerieten mit jedem Schritt, / mit dem wir uns vom Meeresspiegel entfernten / und an Höhe gewannen, / gleichzeitig tiefer in unsere eigene Geschichte", versteht der jüngere Bruder. Entsprechend flicht Ransmayr die Erinnerungen in die Schilderung vom tibetanischen Aufstieg: den militanten katholischen Vater, der sich mit der IRA der englischen Herrschaft widersetzt, seine harten Bergmanöver mit den Söhnen, die nach Belfast entschwundene Mutter. Derart schafft er eine dichte Konstruktion sowie eine Sprachbewegung von eindringlichem Reiz. Eine packende, eine tiefsinnige Prosa über die Frage nach dem "Wahren" und "Wirklichen", über Sehnsüchte, Höhen und Tiefen und über die Existenz von Mensch und Universum.

Das erste Kapitel berichtet von einer buchstäblichen Auferstehung und der Kraft des Wortes, "steh auf!" "Ich starb", heißt es zum ungemein starken Anfang, "6840 Meter über dem Meeresspiegel / am vierten Mai im Jahr des Pferdes" (dass die irischen Brüder ausgerechnet von Horse Island kommen, ist eine jener Überdeutlichkeiten, mit denen Ransmayr auf die poetische Tube drückt).

Der Ort meines Todes / lag am Fuß einer eisgepanzerten Felsnadel, / in deren Windschatten ich die Nacht überlebt hatte." Die Rettung im letzten Moment kommt vom Bruder. "Steh auf!", schreit er, beschwört Erinnerungen und ruft auch Bilder von Nyema hervor, die später erkennt: "daß mein Bruder mich im Windschatten / meiner letzten Zuflucht wohl aus dem Tod / ins Leben zurückerzählte". Von diesem Moment "am Rande" an erzählt der Gerettete zurück: In fein verschränkter Motivik und kunstvoller Metaphorik führt er Natur- und Zivilisationserlebnisse, das Irische der "Meermenschen" und das Tibetanische der Nomaden, die sich der chinesischen Herrschaft widersetzen, zu seinem Erkenntnisweg zusammen.

Nyemas Geschichte von den fliegenden Bergen, die sich in Vorzeiten aus dem Funkenschwarm der Sterne lösten und auf die Erde herabschwebten, um sich irgendwann wieder zu erheben und zu verschwinden, verwandelt sich ihm allmählich in seine eigene. Liebe bedeutet ihnen, die Schrift wieder füreinander zu erfinden.

Ransmayr weiß dies wunderbar zu schildern, schafft ausgesprochen schöne Passagen (der "Himmelsrand, / der eine Felswand gleichzeitig mit der Wolkendecke / vernähte und sie von ihr trennte"). Er greift auf ein paar Bausteine aus seinem Werk, besonders aus seinem Erfolgsroman "Die letzte Welt", zurück – die Metamorphose der Worte, die Schrift im Stein und auf Fähnchen –, leider auch auf Sentimentalisierung und Betonungsübermaß aus "Morbus Kitahara".

Einige Nyema-Passagen bedienen zu romantisch-esoterisch die Fantasien von der amourösen Verbindung mit der (dem) Naturtieferen; die zahlreichen Beschreibungen bringen das Gebirge nicht immer deutlicher in den Blick, sondern verdecken es bisweilen unter all den Eiswänden, Felsbändern, Geröllströmen, Gletscherzungen, Flanken, Klüften, Rampen, Überhängen.

Ein Anflug von Manierismus überdreht manchmal die Sprachschraube ("Splitterwunden, aus denen Blut hervorkochte"); und das Explizite der vielen Rufzeichen und Kursivsetzungen ("ließ mich emporfallen!") bemüht einen unnötigen narrativen Zeigefinger. Es hebt Bedeutung hervor, wie die Form das Erhabene ausstellt, als sei die Schrift des Werkes in Marmor gehauen.

Die Aufteilung in freie Verse und Strophen, die Zäsuren bringen keinen weiteren Sinnzuschlag. Die "Notiz am Rand", die Ransmayr nicht an den Rand, sondern als Eintritt ins Buch dem Roman vorausschickt, wirkt belehrend, zugleich für "Der fliegende Berg" platt im Form-Inhalts-Bezug: Die meisten Dichter hätten sich von der gebundenen Rede verabschiedet, es sei ein Missverständnis, dass es sich bei einem "flatternden Text" um ein Gedicht handle – der fliegende Satz (kursiv) sei frei und gehöre "nicht allein den Dichtern". Mit dieser Form versteigt sich Christoph Ransmayr zur Pose des Erhabenen. Das Schöne seiner Prosa freilich hält uns weiterhin gefangen. (Von Klaus Zeyringer/ DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.9.2006)