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Der gemeinsame Rausch ist das höchste Ziel.

Foto: Michael Dalder/Reuters
Mindestens alle zwanzig Minuten singt und ruft der Kapellmeister auf seinem Podest über die Lautsprecher: "Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit! Oans, zwoa, drei - gsuffa!" Der traditionelle Trinkspruch ist die Aufforderung an die Besucher im Festzelt der Bräurosl, die Maßkrüge mit Oktoberfestbier zusammenzustoßen. Kommen die mehr als sechstausend Besucher der Aufforderung lauthals und gleichzeitig nach, entsteht eine Aufwärtsbewegung, die das Zeltdach scheinbar abheben lässt. Man trinkt Alkohol im Kollektiv und in dieser Verbundenheit wird einem warm ums Herzerl unter dem rot-weiß karierten Trachtenhemd.

"O'zapft is" auf der Wiesn

Seit mehr als 25 Jahren hat sich neben den vielen Traditionen des Münchner Oktoberfests eine weitere etabliert. Jeweils am ersten Sonntag trinken im Zelt der Bräurosl mehrheitlich Schwule das untergärige Bier mit dem runden Malzaroma. Angefangen hat diese inoffizielle Institution des "Gaysunday", als der Münchner Lederclub für sein Jahrestreffen den Balkon im Zelt reservierte. Der Lederclub ist ein schwuler Fetischverein, der Liebhaber von Leder, Gummi und Uniformen zu seinen Mitgliedern und Freunden zählt. Bald kamen auch die Schwuppen, ganz gewöhnliche Homosexuelle. Der Platzbedarf weitete sich im Parkett bis zum Musikpodest in der Mitte des Zelts aus. Dort saßen an den Biertischen aber die Trachtenvereine, die an diesem Sonntag ihren traditionellen Umzug auf der Wiesn ausklingen lassen. "Früher gab es eine Art Wachablöse", sagt Thomas Schellmoser, Bräuroslbesucher seit fünfzehn Jahren. "Wir kamen immer zu Mittag, stellten uns neben die besetzten Tische, plauderten mit den Trachtlern und erbten so ihre Plätze, wenn sie am Nachmittag nach Hause gingen."

Das Reise-Highlight für Schwule

Heute verteilen sich die Schwulen über das ganze Zelt, der Übergang zu den Trachtenvereinen ist angenehm fließend. Weil der Sonntag mittlerweile ein Reise-Highlight für Schwule aus vielen Ländern ist, werden die Eingänge oft schon vormittags wegen Überfüllung geschlossen. Man muss sich etwas einfallen lassen, um in das Zelt mit der gemalten Fassade eines bayerischen Bauernhauses zu kommen.

Zum Beispiel den Kauf eines Kartenpakets des Münchner Lederclubs. Das berechtigt auch zum Eintritt bei Events, die bereits am Donnerstag davor starten. Neben exquisiten Fetischpartys gibt es auch beim offiziellen "Kaffee und Kuchen"-Treffen die Möglichkeit zünftig vorzuglühen. Und am Sonntag hat man seinen reservierten Sitzplatz auf dem Balkon und schaut auf die Schwuppen hinunter. Der Lederclub bittet alle Besucher, sich angemessen zu verhalten (auch auf den Toiletten) und Rücksicht auf das Personal zu nehmen. Die Security duldet keine nackten Oberkörper, und das Stehen auf den Bänken und Tischen ist aus Sicherheitsgründen verboten.

Oder man besorgt sich selbst eine Reservierung beim Bräuroslwirt. Pro Sitzplatz zahlt man auch eine Mindestkonsumation für Bier und das Wiesn-Hendl. Diese Option ist aber oft lange im Voraus ausverkauft.

Steht man ohne Reservierung vor dem Schild "Wegen Überfüllung vorübergehend geschlossen", stellt man sich an einem der vielen Eingänge an. Die werden von Security-Männern bewacht. Gehen Leute raus, kommen welche rein. Das kann aber Stunden dauern, die nicht kurzweiliger werden, wenn man aus dem Zeltinneren das häufige Ritual des Zuprostens hört.

Es gilt eine Lücke zu finden. Sieht der Security-Mann in eine andere Richtung, nutzt man die Gelegenheit reinzuschlüpfen. Man muss schnell sein, denn auch andere warten auf diese Lücke. Irgendwann schließt sie sich, und wehe dem, der vom Security-Mann als Erster aufgehalten wird. Der muss seinen Zorn über alle, die reingekommen sind, stellvertretend ausbaden. Ein Gerücht besagt, es beschleunige den Eintritt, den Security-Mann mit Handschlag zu begrüßen. Raschelt dabei ein gefalteter Zehn-Euro-Schein in der Hand, sei das wie eine Reservierung.

Ziel ist der gemeinsame Rausch

Schafft man den Zutritt vor dem Mittagsläuten, erlebt man, wie um Punkt zwölf die zelteigene Jodlerin als "Bräurosl" die Gäste und den Lederclub begrüßt. Die dralle Blondine gibt das Motto vor: A bissl Leder braucht a jeder. Dann singt sie "Servus, Gruezi und Hallo", und damit sind auch alle Gäste aus dem deutschsprachigen Ausland herrlich eingestimmt. Die Bräuroslkapelle spielt die besten Wiesnhits auch mehrmals, damit es sich besonders leicht mitsingen lässt. Zwischen dem Bayrischen Defiliermarsch, den Titelsongs der Zeichentrickserien Biene Maja und Heidi oder STS mit "Fürstenfeld" wartet der Kapellmeister immer wieder mit seinem Trinkspruch auf. Das erhöht den Bierkonsum. Aber alle verfolgen ohnehin nur das Ziel, sich in einen gemeinsamen Rausch zu trinken. Der absolute Knaller ist "Hey Baby" von DJ Ötzi. Mit Inbrunst wird am schwulen Sonntag der Text abgewandelt: "Hey baby! Uh! Ah! I wanna know if you be my boy!"

Das richtige Outfit

Eine Maß Bier wird nach der anderen bestellt, dazwischen Deftiges wie das halbe Wiesnhendl nachgelegt, um danach noch mehr Maß zu schaffen. Die Stimmung ist offen kommunikativ, weil man schnell vielen Fremden zuprostet und mit ihnen ins Gespräch kommt. Durch den Dresscode ist man sich ohnehin sehr nahe, ohne Tracht fällt man sogar auf. Die meisten Schwulen tragen Lederhosen. Billiges Schweinsleder ist ebenso zu sehen wie das feinere Hirsch- und Wildbockleder. Drüber kommt das Pfoad, wie das weite Leinenhemd in Bayern genannt wird. Obwohl heuer die Hemden wieder in Weiß getragen werden, dominiert nach wie vor das rot-weiße Vichy-Karo. Ist alles aus einem Guss, fehlen beim Outfit natürlich die Loferl, Trachtenstutzen mit Waden- und Fußteil, nicht. Am schwulen Sonntag wird aber auch kombiniert, wobei das Camouflage-T-Shirt des urbanen Kämpfers mit der rustikalen Lederhose vorherrscht.

Um vier am Nachmittag schaut Oberbürgermeister Christian Ude vorbei und hält am Musikpodest eine heftig akklamierte Rede. Die Schwulen mögen ihn, weil er die Schwulen mag. Viel Mühe muss er sich mit dem Inhalt seiner Rede nicht geben. Jeder weiß, dass die Rede gehalten wurde, aber niemand kann sich an sie genau erinnern. Viele sind da schon bei ihrer vierten oder fünften Maß angelangt. Sonderbarerweise ist ab dann das Stehen auf den Bänken erlaubt. Und die Stimmung erreicht das nächste Level.

"Früher ging es wilder zu. Die Bierseligkeit trieb manche zum intensiven Vollzug sexueller Vergnügungen", sagt Thomas Schellmoser. "Das hat sich geändert." Heute liegen sich die Männer in den Armen und küssen sich. Genau das, was die Männer und Frauen der Trachtenvereine unter den imposanten Kronleuchtern mit sieben Metern Durchmesser auch tun. Die sexuelle Orientierung verliert an Bedeutung.

Je später es wird, desto lockerer werden die Restriktionen für den Zutritt ins dampfend heiße Zelt. Da lässt sich zwischendurch draußen auf der Wiesn Luft schnappen. Man nascht gebrannte Mandeln oder in Schokolade getauchte Bananen und fährt mutig mit dem Eurostar, der großen Achterbahn. Oder mit dem klassischen Riesenrad und genießt den Blick über das nächtliche München. Mittlerweile trifft man auch außerhalb des Zelts sich umarmende Männer. Aber vielleicht sind es nur heterosexuelle Freunde, die sich betrunken gegenseitig stützen. Auf alle Fälle stößt sich niemand dran. Dann geht es wieder rein ins Zelt, denn um 23.00 Uhr kann man zum letzten Mal ein Maß bestellen. Um Mitternacht ist Schluss. Dann werden die letzten Gäste einfach rausgekehrt. Und wer das einmal gesehen hat, weiß, dass das nicht metaphorisch gemeint ist.(Peter Fuchs/Der Standard/Rondo/29.09.2006)