Der Begriff der "Treffsicherheit" von Sozialleistungen verdient nähere Betrachtung: Er unterscheide zwischen "guten" und "schlechten" sozialen Risiken. Nikolaus Dimmel nimmt den für Montag, den 3. 7., erwarteten Zwischen-bericht der von der Regierung eingesetzten Arbeitsgruppe zum Anlass für eine Analyse. Während sich die EU-Sozialminister auf mehreren Ebenen seit den Konferenzen in Amsterdam und Lissabon einer sozialtechnologischen Arbeitsmarkt-, Qualifizierungs- und sozialen Inklusionspolitik verschrieben haben, orientiert sich die österreichische Sozialpolitik seit dem Februar 2000 an zwei Prinzipien: nämlich 1. dem Grundsatz der Diskontinuität und 2. dem Recycling ebenso abgegriffener wie "stammtischgängiger" Konzepte aus der Mottenkiste des vulgären Liberalismus. Beides spiegelt sich in einer grotesken Treffsicherheitsdebatte, in der seit dem April dieses Jahres zwischen dem Sozial- und Wirtschaftsministerium ebenso unbekümmert wie unbedarft darüber räsoniert wird, wie zu machen sei, dass Sozialleistungen hinkünftig nur noch denjenigen zugute kommen sollen, die selbige auch "wirklich brauchen". Einmal ideologisch adjustiert, wird dann munter drauflosschwadroniert, wie man bei Sozialversicherungs-, Fürsorge- und Versorgungsleistungen von Bund und Ländern sicherstellen kann, dass nur "wirklich Bedürftige" Adressaten sozialer Inklusionsleistungen sein sollen. Am kommenden Montag soll ein erster Zwischenbericht paraphiert werden. Abstiegserfahrungen ausschlaggebend Bezeichnend, dass hierbei nicht darauf Bezug genommen wird, dass seit Mitte der 80er-Jahre eine Unzahl von sozialwissenschaftlichen Studien zu Armut und Unterversorgung ein ums andere Mal den Beweis geführt haben, dass nicht die Überversorgung nach dem "Gießkannenprinzip", sondern verfestigte soziale Abstiegserfahrungen den "zivilisatorischen Grundkonsens" (Michael Thaler) der österreichischen Gesellschaft bedrohen. Kein Hinweis etwa darauf, dass nicht der Missbrauch in Höhe von 1,5 Prozent der Antragsteller offener Sozialhilfe, sondern ganz im Gegenteil die Nichtinanspruchnahme von Rechtsansprüchen auf den Lebensbedarf sichernde Leistungen im Ausmaß von 90 Prozent der potenziell Anspruchsberechtigten - Daten 1997: 32.600 Personen als einmalige und laufende Bezieher offener Sozialhilfe im Verhältnis zu 440.000 armen, nicht bloß: armutsgefährdeten Personen - die zentrale Herausforderung an eine Politik der Armutsvermeidung darstellt. Keine Rede davon, dass die mittlere Notstandshilfeleistung für Frauen 1998 gerade einmal 6395 Schilling erreichte. Keine Erwähnung des Faktums, dass der Nettoaufwand der Richtsatzleistungen und einmaligen Aushilfen im Bereich der offenen Sozialhilfe 1997 0,9 Mrd. Schilling erreichte. Auf diese Weise enthüllt das Gerede über "Treffsicherheit" vor allem das sozial-riskante Unwissen politischer Eliten. Daneben verdient aber auch schon der Begriff der "Treffsicherheit" genauere Betrachtung, alleine schon deshalb, weil er in der gewählten Beliebigkeit seiner Verwendung die Assoziation einer sozial-und wohlfahrtsstaatlichen Ballistik wachruft, worin der Sozialstaat die als Klientel verkleideten Gegner (Sozialschmarotzer, Trittbrettfahrer) auch unter Inkaufnahme von Kollateralschäden unter Beschuss nimmt. Fragwürdige Begriffsverschränkung Die thematische Verschränkung von staatlicher "Treffsicherheit" und subjektiver "Bedürftigkeit" dient indes augenfällig einem ideologischen Zweck. Denn sie postuliert ein radikal gewandeltes Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft, ohne nach den sozialen Bindungen und Ressourcen zu fragen. Sie tut so, als ob eine der Herrschaft des Rechts unterworfene Balance zwischen Staat und Staatsbürger nicht die Verpflichtung des Staates voraussetzt, die existenziellen Grundlagen des politischen Abstimmungs- und Beteiligungsverhaltens seiner Bürger sicherzustellen. Politische Demokratie ist aber ohne individuell durchsetzbare Rechte auf soziale Inklusion letztlich nicht möglich, was sich trefflich bei Ernst Forsthoff, dem Doyen der deutschen Staatsrechtslehre, nachlesen lässt. Was mit dem Begriff der "Treffsicherheit" gelingen soll, ist, so scheint es, eine Remoralisierung des Codes sozialer Sicherheit, die sich vor allem gut im Gewande unbestimmter Rechts- und Ermessensbegriffe applizieren lässt. Soziale Sicherung sollen nur ehrliche Arme erfahren, die sich sodann als redliche Empfänger öffentlicher Hilfe zu den "anständigen Leuten" zählen dürfen. Der Begriff dient als Hebel zu einer tief greifenden Polarisierung zwischen "guten" (moralisch integren) und "schlechten" (unmoralischen) sozialen Risiken. Er scheidet die jüngeren, sozial auffälligen, fordernd-renitenten, längere Zeit über Arbeitslosen von den älteren, sich regelkonform verhaltenden, in Bittstellerhaltung eingeübten, denen man schlecht "Arbeitsscheu" vorwerfen kann. Remoralisierung von Risiken Das "Treffsicherheit-Bedürftigkeit"-Konzept ermöglicht es dem wohlfahrtsstaatlichen Apparat, seine Klientel nach dem Grad ihrer prognostischen Wiedereingliederungsfähigkeit, nach ihrer Selbstdisziplinierungs- bzw. Unterwerfungsbereitschaft zu selektieren. Es ermöglicht eine zielgruppenbezogene Re-Moralisierung von Risiken, insbesondere den Vorwurf des Selbstverschuldens von Armut, zugleich aber auch die Ökonomisierung von Leistungskalkülen im Rahmen der sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Leistungserbringung. Im Ergebnis verschmilzt hier der neoliberale "never give a sucker an even break"-Habitus mit grotesken Zwangsvorstellungen über den Sozialparasiten, vordem in Gestalt des unehrlichen Juden, jetzt entweder in Gestalt des schamlosen Ausländers oder des arbeitslos gemeldeten arbeitsscheuen "Tachinierers". Darin spiegelt sich nicht zuletzt auch das Drama der emotionalen Verwahrlosung fachlich überforderter macchiavellistischer Laienspieler, die vorgeben, einmal an die Macht gekommen, "ausmisten" zu wollen, dabei selbst aber nicht viel mehr als konzeptiven Müll produzieren. DDr. Nikolaus Dimmel ist Professor für Rechtssoziologie an der Universität Salzburg und Sprecher der "Österreichischen Armutskonferenz".