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Indien - ein vielschichtiger, multidimensionaler Raum, geprägt von zahlreichen Ursprüngen und unzähligen historischen Wegen

Foto: EPA/Money Sharma
Indien ist mehr als nur ein Land mit enormen geografischen Ausmaßen, geprägt von großen sozialen Unterschieden und alten Hochkulturen. Es ist eine Weltregion, wo die Verschiedenartigkeit in der Fülle zerfließt. Einst strahlte Indien vor allem als kulturell-religiöser und sozio-politischer Begriff weit über das heutige Territorium hinaus und hat ganz Südasien beeinflusst. Indien – es reichte von Afghanistan bis nach Burma. Der Hinduismus verbreitete sich bis nach Indonesien, der Buddhismus sollte ganz Asien prägen. Mit 1,112 Milliarden Einwohnern ist Indien heute nach der Volksrepublik China und vor den USA der bevölkerungsmäßig zweitgrößte Staat der Erde.

415 Sprachen und Dialekte werden in Indien gesprochen. Die überregionalen Amtssprachen sind Hindi und Englisch; dazu kommen regionale Amtssprachen: Assamesisch, Bengali, Bodo, Dogri, Gujarati, Kannada, Kashmiri, Konkani, Maithili, Malayalam, Manipuri, Marathi, Nepali, Oriya, Punjabi, Sanskrit, Santali, Sindhi, Tamil, Telugu und Urdu.

Keine Chronologie

Die Geschichte dieses vielschichtigen und multidimensionalen Raumes hat keinen Anfang, keine Chronologie. Sie besteht eher aus vielen Geschichten, mit unzähligen, widerstreitenden Ursprüngen und zahllosen getrennten Wegen, meint etwa David Ludden in seinem aktuellen und aufschlussreichen Band Geschichte Indiens. Ludden versucht anhand der verschiedenen Mentalitäten und Identitäten einen möglichst umfassenden „sensibilisierten Abdruck“ dieses Kulturraumes herauszuarbeiten und dem Leser verständlich zu machen.

Tauchen wir also kurz ein in die geschichtliche Entwicklung bis heute: Zwischen den Jahren 2600 und 1500 v. Chr. entstanden während der so genannten Harappa- oder Indus-Zivilisation zahlreiche Städte im Norden Indiens. Die Indus-Kultur fällt zeitlich mit dem Erblühen der großen Kulturen in Ägypten, Mesopotamien und im Jangtse-Delta Chinas zusammen. Der frühe Fluss der Kultur schien unter den Mauryas (321–181 v.Chr.) und den Guptas (320–520 n.Chr.) in eine klassische Zivilisation zu münden, die sich an den Ufern des Ganges erhob, wobei zwischenzeitlich unter anderem Indo-Griechen und Indo-Parther das Gebiet beherrschten.

"Juwel in der Krone" Großbritanniens

Obwohl der Buddhismus über Jahrhunderte die bevorzugte Religion war, starb der Hinduismus auch unter den zahllosen Eroberern (von den Arabern ab dem achten Jahrhundert bis zu den muslimischen Herrschern des Mogulreiches ab dem 16. Jahrhundert) nie aus und konnte seine Stellung als dominierende Religion langfristig behaupten. Die Briten waren die letzten fremden Herrscher. Von 1757 bis 1947. Sie bezeichneten „Britisch-Indien“, das fast den gesamten indischen Subkontinent umfasste, als „Juwel in der Krone“. Nach der Teilung des britischen Kolonialgebietes in unabhängige Staaten wurde die Region zum Pulverfass: In Kaschmir stehen sich die mittlerweile zu Atommächten mutierten Rivalen Indien und Pakistan, die schon mehrmals gegeneinander Krieg geführt haben, trotz verbaler Lippenbekenntnisse zur Bewahrung des Friedens unversöhnlich gegenüber. Hauptstreitpunkt ist das geteilte Kaschmir.

Mit dem großen Nachbarn China, mit dem es 1962 zu militärischen Grenzauseinandersetzungen kam, hat Indien ebenfalls ein mehr oder weniger angespanntes Verhältnis. Zudem hat Indien dem 1959 aus Tibet geflohenen Dalai Lama Exil gewährt. Das Verhältnis der USA zu Indien gewinnt heute immer mehr an Bedeutung und löst die alte indisch-sowjetrussische Allianz aus dem Kalten Krieg schrittweise ab. Mit dem Nuklearabkommen Washingtons mit Neu-Delhi 2006 werden offensichtlich ganz neue Wege der Kooperation beschritten. Obwohl Indien nicht dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist, fördern die USA Indien als Atommacht – ein Sonderfall, der das Land zu einem immer wichtigeren Player im regionalen Machtspiel macht. Harald Müller, Leiter der renommierten Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, liefert dazu in seinem Buch Weltmacht Indien sehr gut herausgearbeitete Hintergrundinformationen.

Stimmungsgemälde

Auf seinen Reisen durch das Land beschreibt der in Großbritannien lebende Schriftsteller und Nobelpreisträger Vidiadhar Surajprasad Naipaul in beeindruckender Weise das boomende Indien mit all seinen Gegensätzen – von der Welt der Brahmanen, dem komplizierten Kastenwesen, der Armut der Dörfer bis hin zu den Megastädten wie Bombay oder Kalkutta. In Indien – Land des Aufruhrs weist Naipaul darauf hin, dass die indische Bevölkerung im Laufe seiner Indien-Reisen (in den Jahren 1962, 1975 und 1990) aus der beengten Lebensweise und dem beschränkten Erwartungshorizont ihrer Eltern und Großeltern immer mehr herausgetreten ist und vom Leben mehr verlangt. Das Ausmaß, in dem das Land sich erneuerte, hatte Naipaul im Laufe seiner intensiven Begegnungen mit den verschiedensten Menschen vor Ort erst nach und nach erkannt und gewissenhaft zu Papier gebracht. Das Buch ist ein Stimmungsgemälde, in dem die akkurat erfasste Gegenwart die Zukunft voraussehen lässt.

Das koloniale Erbe lastet heute noch auf dem sozial sehr gegensätzlichen Land. Die konsequent aus der Interessenslage des Mutterlandes konzipierte Steuer- und Pachtgesetzgebung etwa verschärfte im Verlauf von zwei Jahrhunderten britischer Kolonialherrschaft den ohnedies erheblichen Klassenunterschied zwischen Großgrundbesitzern, landlosen Arbeitern und Kleinbauern, unter dem Indiens ländlicher Sektor bis heute leidet. Trotz wachsender Mittelschicht haben nach Angaben der Weltbank heute 44 Prozent der Einwohner Indiens weniger als einen US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Noch immer ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung zu arm, um sich eine ausreichende Ernährung leisten zu können.

Spannungen

Die Entwicklung des religiös motivierten Nationalismus und Fundamentalismus in Indien führte und führt zur Verschärfung politischer und sozialer Spannungen, die sich immer wieder gewaltsam entladen. Die Anschlagsserie vom 11. Juli 2006 auf Vorortszüge in Bombay, hinter der muslimische Extremisten vermutet werden, heizt diese Stimmung noch an. Nicht zuletzt empfinden Hindu-Fundamentalisten die Vielfalt und Freiheit der hinduistischen Tradition als eine Schwäche. Indien beherbergt nach Indonesien und Pakistan die meisten Muslime der Welt, die in ihrer Masse bislang kaum als fundamentalistisch-radikalisiert gelten können. Und dennoch: In einem Land mit rund 135 Millionen Muslimen (neben zahlreichen anderen Religionsgruppen), in dem die Hindus mit ca. 80 Prozent zwar die klare Mehrheit stellen, besteht trotz traditioneller Toleranz als Charakteristikum des Hinduismus ein latentes Potenzial zu gewaltsamen Konflikten.

Die deutsche Psychologin und Journalistin Maria Wirth, die seit über 25 Jahren in Indien lebt, breitet vor uns ein anderes Indien aus – das Indien jenseits allen westlichen Komforts mit all den Bettlern, Schlaglöchern, dem Lärm und Schmutz der Straßen und der oftmals drückenden Hitze. Ihr neues Buch mit dem Titel Von Gurus, Bollywood und heiligen Kühen ist eigentlich eine Mischung aus Reisebericht und persönlich erfahrener Lebensphilosophie.

Indien ist – auf den zweiten Blick besehen – traditionell das Land der Weisheit, die inzwischen immer mehr vom Westen entdeckt wird. Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra etwa hat die herausragende Gestalt Buddhas, der hier gelebt und gewirkt hat, in seinem Buch Unterwegs zum Buddha intensiv beleuchtet und die Wirkung seiner Lehren bis in die Gegenwart nachgezogen. Mishra vermittelt ein äußerst vielschichtiges Bild des Buddhismus und Indiens.

Gandhis Gedanken über den Hinduismus

Noch eine wichtige Persönlichkeit prägte vor allem den Weg in das moderne Indien: Mahatma Gandhi, der durch sein Konzept der Wahrheit und Gewaltlosigkeit Indien 1947 in die Unabhängigkeit führte. Seine Gedanken zur Lebensform des Hinduismus und ihre Umsetzung im Alltag liegen nun in deutscher Übersetzung vor. Doch hat Mahatma Gandhi heute im boomenden Indien noch die gleiche Bedeutung wie früher? Der gebürtige und seit 1984 in Indien lebende Schweizer Ethnologe, Linguist und Journalist Bernard Imhasly geht dieser Frage in seinem spannenden Buch Abschied von Gandhi? nach. Sein Fazit: Gandhi ist präsent in der Zivilgesellschaft, aber seine Virulenz fehle ausgerechnet da, wo er sie zeitlebens selbst geortet hat: in der Politik des Landes.

Auf seinen Reisen habe Imhasly nicht einen indischen Politiker getroffen, der sich Gandhis Kernsatz gestellt hätte, wonach Mittel und Zweck untrennbar sind und zusammengehören wie Saatkorn und Frucht. Mit Gewalt, so Imhasly, lässt sich eben keine gewaltlose Gesellschaft errichten. Und der Einsatz von Schwarzgeld, unter anderem bei Wahlen, spiegle keine transparente Öffentlichkeit wider. Vielleicht, wenn es trotz aller Missstände gelingt, das unterste Drittel der Gesellschaft – indem Analphabetismus und Verelendung überwunden werden – an den Früchten des Wachstums teilhaben zu lassen, wird Indien sein enormes Potenzial entfalten können und zu einer echten ökonomischen und politischen Großmacht avancieren. (Wolfgang Taus/DER STANDARD Printausgabe, 30.09./01.10.2006)