Wien - Glocken läuten im Himmel, Jeanne d'Arc wendet den Blick nach oben, und auch Lauri und Ilona sehen auf die Wolken, die über ihrem Restaurant "Arbeit" ziehen: Jenseits von geographischen Koordinaten eröffnet sich das Kino des Nordens als Seelenlandschaft. Es wendet das Innenleben der Menschen nach außen, es stellt gern die Glaubensfrage: Seine Ikonographie beginnt im Geiste. Parallel zur Ausstellung Norden in der Kunsthalle Wien bietet die heute, Donnerstag, startende Filmreihe im Filmcasino einen alternativen Zugang zu diesem recht unerschlossenen Kulturraum: Von den Anfängen des Kinos bis zur Gegenwart reicht dabei die Auswahl an Kurz- und Langfilmen, die nicht chronologisch geordnet, sondern nach gemeinsamen Topoi und Motiven gebündelt sind: Hexen. Leiden. Zu erforschen gilt es einen Themenabend zur Figur der Hexe, wo neben Benjamin Christensens Hexen Carl Theodor Dreyers Tag des Zorns steht; anderntags findet das Leiden von Dreyers Gertrud sein Echo in dem von Bess aus Lars von Triers Breaking the Waves. Vier Autoren, die durch ihre schillernde ästhetische Eigenart Weltkino mach(t)en, bilden den Kern der Reihe: Neben den Dänen Dreyer und von Trier sind das Ingmar Bergman und Aki Kaurismäki, die alle mit mehreren Arbeiten vertreten sind. Die Geschichte des skandinavischen Films liest sich indes mehr als eine der Diskontinuitäten: Kurz währenden Höhenflügen folgte ein rasanter Absturz, aber immer wieder, zuletzt etwa durch die Dogma-Bewegung, bäumte sich das nördliche Kino wieder auf. Victor Sjöström und Mauritz Stiller, die schwedischen Stummfilmmeister - beide emigrierten später nach Hollywood -, sind mit einem gemeinsamen Film dabei: Thomas Graals bester Film ist ein Film im Film, der überaus witzig und dynamisch mit der Unverhältnismäßigkeit von Wort und Bild verfährt. Dem Drehbuchautor Graal (Sjöström) bringt die neue Sekretärin die ersehnte Inspiration zurück, sodass er sich in seinem jüngsten Script als großer Verführer stilisieren kann. "The Little Adventures", wie sein Film heißt, macht sich allerdings in seiner (optischen) Lektüre gänzlich anders aus als in der seiner verehrten Frau. Kino, beweist Stiller, ist eben immer auch schon Wunschprojektion. Ein zu Unrecht vergessener Regisseur - und Mentor von Ingmar Bergman - ist Alf Sjöberg, der repräsentativ für die zweite Blüte des schwedischen Films nach dem Zweiten Weltkrieg steht: August Strindbergs Fräulein Julie wird in seiner Inszenierung zu einer aus schrägen Kamerawinkeln gefilmten Auseinandersetzung mit familiären Machtspielen und den damit einhergehenden psychischen Defekten. Gegenwart und (erinnerte) Vergangenheit löst er oft innerhalb einer Szene auf. Sjöberg kreiert derart einen wahrhaft visuellen Stil für neurotisches Innenleben. Deutlich zeigt sich in Fräulein Julie aber auch der Einfluss der strengen Bildkompositionen des revolutionären sowjetischen Kinos, einer Form, die hier auf weitaus unüberwindlichere Klassenkonflikte angewendet wird. Vielleicht liegt gerade in diesem schöpferischen Eklektizismus eine der Stärken des Kinos aus dem Norden: Noch die ironische Strenge der Gebote des Dogma '95 hat ihre Vorbilder, etwa in der Erneuerungsbewegung der Nouvelle Vague, und Aki Kaurismäkis lakonischer Umgang mit melodramatischen Formen weiß auch um seine Ursprünge. Dennoch: Ganz geben sich diese Filme nicht preis. Es bleibt ein störrischer Rest. Bis 6. 7. im Wiener Filmcasino (Dominik Kamalzadeh)