Foto: Viennale
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Hélène de Crécys Dokumentarfilm "La consultation" ist einfach konstruiert: Er besteht aus einer Serie von Patientengesprächen, aufgenommen in der Praxis des Allgemeinmediziners Luc Perino, sowie zwei Hausbesuchen des rührigen Arztes aus Lyon.

Nach der Reihe nehmen Frauen oder Männer, manchmal auch Paare gegenüber von Perino Platz und schildern ihre Beschwerden: Eine junge Frau klagt über anhaltende Atemwegserkrankungen. Ein älteres Paar legt die Befunde externer Untersuchungen vor. Eine andere Frau schildert ihre Panikattacken, während ihr Mann etwas verunsichert daneben sitzt.

Ein Studentenpärchen hat sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden. Eine junge Frau leidet körperlich unter ihrer Arbeitssituation in einem Call Center und bittet um eine Krankschreibung. Eine alte Frau ist über ihre Übersiedlung in ein Altersheim schwermütig geworden. Ein Familienvater mit beginnender Leberzirrhose kommt nicht von der Flasche los. Perino hört genau zu, fragt nach, macht sich Notizen und reagiert dann mit spürbarer Empathie, aber auch sehr direkt und unverblümt auf seine Gegenüber: "Sie rauchen? Nun, da haben Sie die Diagnose und die Behandlung!"

Kranke Gesellschaft

Zweierlei wird im Verlauf dieser gleichförmigen, gelassenen Beobachtungen, die mitunter an verwandte Arbeiten von Raymond Depardon erinnern, allmählich sichtbar: der Arbeitsalltag des Arztes und dessen Routinen – aber auch der gegenwärtige Zustand einer Gesellschaft, in der Individuen an privaten Lebensumständen ebenso wie an Arbeitszusammenhängen krank werden.

Ein Umstand, der wiederum auch den Arzt zu leicht verzweifelten Befunden darüber animiert: "Die Arbeitsbedingungen heutzutage sind völlig vertrottelt!" Die Medizin stünde nur noch am Ende eines Riesentrichters, er betreibe ganz allgemein Aufklärungsarbeit, "schlechten Paternalismus".

Die eigentlichen Untersuchungen, die Perino vornimmt, die Rezepte und Überweisungen, die er ausstellt, sind bei der Ausübung seiner Profession scheinbar längst in den Hintergrund getreten gegenüber der "talking cure", die er den Ratsuchenden und Leidenden angedeihen lässt.

Deren Probleme wiederum sind weniger im organischen Bereich, auf dem Gebiet klassischer Erkrankungen angesiedelt, als vielmehr seelischer Natur. Perino verschreibt Antidepressiva, rät zu Psychotherapien und Paarberatung.

Vor diesem Hintergrund wirkt er fast erleichtert, wenn dann einmal eine Dame, die sich unter den Schmerzen einer Genickstarre windet, vor ihm sitzt. Das sei verhältnismäßig leicht zu behandeln, sie müsse vor allem die Muskulatur entlasten. Da er wisse, dass sie mit Geld gerade etwas knapp sei, gebe er ihr noch einen einfachen Ratschlag mit auf den Weg. Es folgt die Anleitung für eine selbstgebastelte Halskrause – die wenigsten Fälle in Perinos Praxis finden eine derart schnelle Lösung. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.10.2006)