Alexander Siedschlag: "Österreich sollte seine sicherheits- und verteidigungspolitische Tradition nicht für die EU verwerfen, sondern sie zum Gesamtnutzen der Union einbringen."

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Alexander Siedschlag , Inhaber des Lehrstuhls für Europäische Sicherheitspolitik an der Universität Innsbruck, erklärt im Interview mit derStandard.at die Plus- und Minuspunkte der österreichischen Sicherheitspolitik im Hinblick auf eine gemeinsame EU-Verteidigungspolitik. Ein "Übertreiben der Neutralität" hält er im Kampf gegen den Terrorismus für nicht sinnvoll und verteidigt die Eurofighter als "Paradebeispiel europäischer Integration". Theoretisch hält er es für möglich, dass der heimische Luftraum von einem anderen Staat überwacht wird, praktisch sei ein solches "Outsourcing" jedoch gefährlich. Die Fragen stellte Rainer Schüller.

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derStandard.at: Welche Rolle soll Österreich innerhalb der EU-Sicherheitspolitik künftig spielen?

Siedschlag: Österreich sollte seine sicherheits- und verteidigungspolitische Tradition nicht für die EU verwerfen, sondern sie zum Gesamtnutzen der Union einbringen. Österreich hat während seiner EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres unter Beweis gestellt, dass es ein Schrittmacher und Problemlöser in der sicherheitspolitischen Integration Europas ist, erfolgreich neue, wichtige Themen platzieren und konsensfähig machen kann. Zum Beispiel internationales Katastrophenmanagement als einen neuen Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU oder die schrittweise sicherheitspolitische Anbindung des westlichen Balkans an die sicherheitspolitischen Standards Westeuropas.

derStandard.at: Welche Mankos sehen Sie innerhalb der österreichischen Sicherheitspolitik auf nationaler und internationaler Ebene?

Siedschlag: Es fehlt zum Beispiel eine vollumfängliche politische und öffentliche Berücksichtigung der Tatsache, dass innere und äußere Sicherheit sich nicht mehr sinnvoll trennen lassen. Wirksame Sicherheitspolitik ist nur noch multilateral möglich, vor allem im Rahmen der EU und der UNO. Nationale Besonderheiten wie zum Beispiel Neutralität ermöglichen keine Abschottung.

Auch bedeutet Sicherheit nicht nur Verteidigung, sondern umfassende internationale Konfliktprävention. Sicherheitspolitik eines jeden europäischen Staates ist heute nur noch als europäische Sicherheitspolitik möglich. Durch seine frühere, noch aus dem Kaiserreich stammende Tradition multinationaler Integration auf dem Verteidigungssektor wäre Österreich dazu prädestiniert, hier eine Vorbildfunktion zu übernehmen. Dadurch, dass sich das Land allerdings hinter seiner jüngeren sicherheitspolitischen Tradition seit 1955 teils versteckt, kann es nicht in dem Maße als positive Gestaltungskraft umfassender europäischer Sicherheit wirken, wie es dazu prädestiniert und fähig wäre.

derStandard.at: In welchen Bereichen gibt es Pluspunkte?

Siedschlag: Ein großer Pluspunkt ist das aus der Ära umfassender Landesverteidigung stammende Verständnis für die Vielschichtigkeit von Krisenmanagement im Inneren und im zivilen Bereich. Dazu kommt eine europäische Vorreiterrolle im Zusammenwirken ziviler und militärischer Kräfte im Katastropheneinsatz und im internationalen Krisenmanagement. Hier ist Österreich ein Ideenlieferant für die EU und kann großen europäischen Staaten wie zum Beispiel Deutschland als Vorbild, ja als Modell dienen.

derStandard.at: Wie gut ist die Heeresreform auf die Rolle Österreichs innerhalb einer gemein-samen EU-Sicherheitspolitik abgestimmt?

Siedschlag: Die Ziele der Reform stimmen naturgemäß nicht optimal mit der gegenwärtigen europäischen Sicherheitslage überein. Jede – notwendige – Großreform ist dazu verdammt, im Endeffekt hinter der Zeit zu sein.

Die gemeinsame EU-Sicherheitspolitik hat sich in den letzten Jahren nahezu mit Lichtgeschwindigkeit weiterentwickelt, eine Reform kann nur, ja muss aus Akzeptanzgründen behutsam umgesetzt werden, sonst wäre sie ja eine Revolution. Vielleicht jedoch sollte die Bundesheerreform mehr als eine europäische Aufgabe wahrgenommen werden und weniger als eine reine Organisationsreform im nationalen Maßstab (z.B. Veräußerung von Liegenschaften, Präsenzdienstdauer usw).

Denn innerhalb der EU geht es um die Reform von einzelstaatlicher Sicherheitspolitik zugunsten gemeinsam europäisch nutzbarer ziviler und militärischer Fähigkeiten. Jede nationale Streitkräftereform ist deshalb automatisch auch ein europäisches Projekt.

derStandard.at: Sollte Österreich langfristig ein Berufsheer haben? Wie notwendig ist die Wehrpflicht?

Siedschlag: Das ist eine politische Frage. Der EU-Vertrag ermöglicht grundsätzlich den einvernehmlichen Schritt zu einer "europäischen Verteidigung", d.h. zu einer Europaarmee. Diese Vertragsoption ist aber unter den EU-Mitgliedstaaten auf langfristige Sicht nicht konsensfähig. Die historische Negativerfahrung Großbritanniens oder der USA zeigt, dass der Schritt zu einer Berufsarmee die Fähigkeiten zu effizienten internationalen Einsätzen nicht erhöht, sondern verringert.

Der Übergang zu einem Berufsheer verhindert es außerdem, die für internationale Friedenseinsätze erforderliche Spezial-fähigkeiten kostengünstig anlassbezogen zu entwickeln. Zum Beispiel durch den Rückgriff auf medizinische Kräfte und Rechtsexperten des Milizstandes. Solche Fähigkeiten auf der Basis einer langjährigen Berufslaufbahn vorzubereiten und vorzuhalten, würde die finanziellen Fähigkeiten Österreichs übersteigen und dazu führen, dass es sich an UN- und EU-Einsätzen nicht mehr maßgeblich beteiligen kann. Will die Republik ihre positive Tradition der internationalen Friedens- und Hilfseinsätze fortsetzen und im Rahmen der EU-Sicherheitspolitik zu solidarischem Handeln überhaupt befähigt sein, wird sie sich vom Wehrpflichtheer nicht verabschieden dürfen.

derStandard.at: Könnte Österreich auf lange Sicht überhaupt auf ein nationales Heer verzichten?

Siedschlag: Auf betont lange Sicht ja. Die politische Entscheidung zum Verzicht auf national geführte Armeen zugunsten einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft war Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien sogar schon im Kalten Krieg möglich, im Vertrag eben über die Schaffung einer "Europäischen Verteidigungs-gemeinschaft" (EVG), der dann allerdings im französischen Parlament nicht ratifiziert wurde und nie in Kraft treten konnte.

Ein Verzicht auf ein nationales Heer würde aber nicht bedeuten, keine Soldatinnen und Soldaten mehr auszubilden und zu haben, sondern sie eben in eine europäische Gemeinschaftsarmee zu integrieren.

derStandard.at: Sie sehen durch die Neutralität Österreichs kein Hindernis bei der Beteiligung an EU-Battle Groups. Warum nicht?

Siedschlag: Österreich beteiligt sich an einer Dreiländer-Battlegroup, gemeinsam mit Deutschland und der Tschechischen Republik. Battle Groups beeinträchtigen den harten Kern der Neutralität nicht: Sie stehen nicht im Rahmen eines Militärbündnisses (denn der EU-Vertrag beinhaltet keine militärische Beistandspflicht), führen nicht zur dauernden Stationierung ausländischer Streitkräfte auf österreichischem Territorium und sind durch ihren Umfang von ca. 1.500 Personen auch nicht als ein Instrument zur Kriegsführung zu verstehen, sondern zum auf militärische Fähigkeiten als äußerstem Mittel gestützte Beiträge zum internationalen Krisenmanagement.

derStandard.at: Welche Rolle spielt die Neutralität überhaupt noch?

Siedschlag: Die österreichische Neutralität spielt diejenige Rolle, die man ihr politisch gibt. Das hat schon Bruno Kreisky in seiner Zeit als Außenminister Ende der 1950er-Jahre gesagt: Damals war es die Rolle der Neutralität, die nationale Einheit, Unabhängigkeit und Souveränität der neuen Republik sicherzustellen. Heute kann und muss die Neutralität im Gegenteil die Rolle haben, multinationale Kooperationsfähigkeit, europäische Integrationsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit Österreichs sicherzustellen.

Umso mehr gilt deshalb heute, was Kreisky immer betont hat: Die österreichische Neutralität ist keine nationale Identität, kein Legitimitätsquell und keine Freikarte von der Weltpolitik, sondern eine Handlungsgrundlage. Diese Handlungsgrundlage, so Kreisky weiter, entspricht in ihrer politischen Praxis eher der militärischen Paktfreiheit nach dem schwedischen Modell als der immer währenden Neutralität nach dem Schweizer Modell.

Das heißt: Eine zu eng ausgelegte und ideologisierte Neutralität widerspricht der Intention des Bundesverfassungsgesetzes von 1955. Die spezielle immer währende Neutralität Österreichs hat nämlich seit jeher die gesetzliche Funktion, der Republik außenpolitische Handlungsspielräume zu eröffnen anstatt zu verschließen.

derStandard.at: Braucht ein kleines Land wie Österreich eigene Abfangjäger?

Siedschlag: Zum harten Kern der immer währenden Neutralität in ihrem elementaren völkerrechtlichen Sinn gehört die Pflicht des Neutralen, für seine glaubhafte Selbstverteidigung zu sorgen. Das gilt auch für den Luftraum. Solange Österreich im immer währenden Sinn neutral sein will, braucht es deshalb Abfangjäger.

derStandard.at: Ist die Bewaffnung der Eurofighter ausreichend?

Siedschlag: Ohne Experte für Rüstungstechnik zu sein ist mein Kenntnisstand, dass die Bewaffnung der Eurofighter dazu geeignet ist, die im Rahmen der Neutralitätspflichten zu erfüllenden Aufgaben durchzuführen.

derStandard.at: Würden auch billigere Varianten oder weniger Eurofighter den Zweck erfüllen?

Siedschlag: Da sich das Österreich-Modell des Eurofighter in bestimmten Bereichen seiner technischen Ausstattung an der unteren Grenze des sinnvoll Einsetzbaren bewegt, geht jede billigere Variante zu Lasten der Fähigkeit, die grundlegenden Aufgaben zu erfüllen.

Moderne Kampfjets wie der Eurofighter und auch seine diskutierten Alternativen sind außerdem nie alle gleichzeitig einsatzbereit. Mindestens die Hälfte ist jeweils zur Wartung usw. Noch weniger Eurofighter werden deshalb den Zweck nicht glaubhaft erfüllen können.

derStandard.at: Könnte der europäische Luftraum auch länderübergreifend (z.B. Deutschland kümmert sich um Österreich) gesichert werden?

Siedschlag: Theoretisch wohl schon. Jedoch zeigt zum Beispiel der tragische Flugzeugzusammenstoß von vor wenigen Jahren über dem Bodensee, dass sehr risikoreich ist, Luftraumüberwachung (und entsprechend auch Luftraumsicherung) outzusourcen. Sie ist ein Kernbereich der Landessicherheit.

Außerdem sollte man bedenken, dass der Eurofighter an sich ja bereits ein europäisches Projekt, ein europäisches Flugzeug ist, wie der Name ja auch sagt. Indirekt kümmern sich insofern bereits andere Länder – in Form eines gemeinsamen Produktes – mit um die österreichische Luftraumsicherheit.

Gerade der umstrittene Eurofighter ist ein Paradebeispiel europäischer Integration und Vergemeinschaftung im Rüstungssektor. Deshalb wundere ich mich als Politikwissenschafter immer, dass diejenigen Parteien in Österreich, die sich politisch am vehementesten für eine Entnationalisierung und europäische Vergemeinschaftung des Militärwesens aussprechen, den Eurofighter abschießen wollen.

derStandard.at: Wie kann sich Österreich effizient gegen Terrorismus schützen?

Siedschlag: Allenfalls durch die volle Einbindung in die europäische Integration auch auf diesem Sektor. Die EU verfügt über einen gemeinsamen Aktionsplan zur Bekämpfung des Terrorismus und hat Zivilschutz (z.B. auch im Fall von Bio- und Nuklearterrorismus) in ihre Sicherheit- und Verteidigungspolitik aufgenommen. Umfassende Landesverteidigung auch unter dem Vorzeichen terroristischer Bedrohung ist nur noch im europäischen Rahmen möglich.

Bedenken muss man aber: Terrorismus ist letztlich eine Form oder Methode von Politik, wenn auch von brutaler Drohungs- und Vernichtungspolitik, und gegen Politik kann man sich nicht schützen. Man kann sich nur bestmöglich darauf vorbereiten, mit den Folgen der Politik transnationaler Terrorvereinigungen klarzukommen. Dies geht am effizientesten ebenfalls durch die Beteiligung an der Entwicklung von Fähigkeiten im EU-Rahmen, aber auch im Rahmen des NATO-Programmes "Partnerschaft für den Frieden", dem Österreich seit mehr als zehn Jahren angehört.

derStandard.at: Was kann das Bundesheer gegen Terrorismus ausrichten?

Siedschlag: Das Bundesheer hat dabei viel zu bieten, zum Beispiel mit der international äußerst anerkannten und erfolgreichen ABC-Abwehrtruppe. Das Übertreiben der Neutralität jedenfalls schützt nicht vor Terrorismus; denn nur Staaten können neutral sein, nicht aber Gesellschaften. Der typische Terrorismus der Gegenwart legt es aber darauf an, Gesellschaftssysteme und nicht Staatsführungen aus dem Ruder zu bringen.