Vor einem Jahrzehnt war es noch eine gewagte These, heute gilt es unter Ökonomen und Politikwissenschaftern schon fast als Selbstverständlichkeit: Eine Überfülle an Bodenschätzen machen ein Land nicht reich, sondern arm.

Rohstoffreichtum führt demnach zu einer überbewerteten Währung, was die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige hemmt; er fördert soziale Ungleichheit und Korruption; er stärkt die jeweiligen Machthaber und behindert die Entstehung einer Zivilgesellschaft; er bremst Bildung und Unternehmertum; und er mündet oft in militärischen Konflikten und Bürgerkriegen. Es ist kein Zufall, dass die Schweiz und Japan zu den reichsten, Nigeria und Kongo zu den ärmsten Ländern der Welt gehören. Der "Ressourcenfluch", wie der Geograf Richard Auty das Phänomen nannte, ist unbarmherzig.

Ölfluch

Vor allem Erdöl entpuppt sich für viele Staaten als Quelle ökonomischen, sozialen und politischen Übels. Nur wenige Länder wie Norwegen können damit umgehen - nicht aber Russland, das sich unter Wladimir Putin immer mehr zur Bedrohung für seine eigenen Bürger (ob im In- oder Ausland) und direkten Nachbarn entwickelt. Das Schicksal Russlands ist auf paradoxe Weise mit dem Ölpreis verknüpft: je geringer die Einnahmen aus Energie, desto besser die Aussichten des Landes.

Das billige Öl der Achtzigerjahre trug maßgeblich zum Kollaps des Kommunismus bei und half Michail Gorbatschow, siebzig Jahre katastrophaler Planwirtschaft und Diktatur zu beenden. Unter Boris Jelzin war Russland chaotisch und korrupt, aber wirtschaftlich und politisch auf dem richtigen Weg - dank Pressefreiheit, einer lebendigen politischen Kultur und eines sich rasch ausbreitenden Unternehmertums, das nicht nur von den Oligarchen getragen war.

Faschismus im Anmarsch

Auch Putin tastete viele dieser neuen Freiheiten zunächst nicht an, vor allem präsentierte er sich in den ersten Jahren als entschlossener Verfechter der freien Marktwirtschaft. Doch dann kam im Oktober 2003 die Verhaftung von Yukos-Gründer Michail Chodorkowski und in der Folge die Zerschlagung des größten Ölkonzerns des Landes; dann das desaströse Verhalten der Behörden bei der Geiselnahme in Beslan, die Gängelung der letzten unabhängigen Medien, die Entmachtung der Provinzen zugunsten des Kremls, die Wiederverstaatlichung wichtiger Wirtschaftsbereiche, die Vertreibung ausländischer Investoren und schließlich der kaum verhüllte Terror gegen Regimekritiker. Russland kehrt zurück zur Diktatur, diesmal nicht unter dem Banner des Kommunismus, sondern - wie der Economist bereits warnt - des Faschismus.

Supermacht durch Öl

Was ist passiert? Vielleicht hatten Putin und seine Geheimdienstkreise von Anfang an vor, den Liberalismus der Jelzin-Ära zu beenden. Wahrscheinlicher aber ist, dass es die seit 2003 dramatisch steigenden Ölpreise waren, die diesen Sinnes- und Politikwandel ausgelöst haben. Die sprudelnden Einnahmen lösten vom russischen Staat den finanziellen Druck, der bis dahin die Wirtschaftsreformen angetrieben hatte, sie verstärkten den Anreiz für die Machthaber, die Kontrolle über den Energiesektor zurückzuholen, und sie gaben den Russen - den Eliten wie dem Volk - die falsche Hoffnung, sie könnten mit ihren wertvollen Bodenschätzen den verlorenen Status einer Supermacht wiedergewinnen.

Die Öl- und Gaseinnahmen kaschieren katastrophale Entwicklungen im Land. Die übrige Wirtschaft verkommt, die Korruption ist ärger denn je, das geistig-kulturelle Leben stagniert. Der mühsam erworbene weltpolitische Respekt schwindet, je tiefer Russland in die Rechtlosigkeit abgleitet. Selbst die Energieproduktion - und das ist das deutlichste Krisenzeichen - fällt, weil die Energieriesen Gasprom und Rosneft zu wenig investieren und ihnen westliche Technologie fehlt.

Wenn eines Tages der Ölpreis wieder sinkt, dann wird Russland den Ölfluch voll zu spüren bekommen. Der einzige Ausweg wäre ein radikales Umdenken in Moskau, doch dieses ist nicht in Sicht. (Eric Frey, DER STANDARD, Printausgabe, 9./10.12.2006)