In Charles Dickens' Weihnachtsgeschichte des Jahres 1843 wird der geizige Geschäftsmann und Menschenfeind Ebenezer Scrooge zum Weihnachtsliebhaber bekehrt und dabei zu einem besseren, ja einem richtig guten Menschen. Die drei Geister, die ihn nächtens besuchen und ihn daran erinnern, dass er erst als reicher Mann unmenschlich und hart geworden ist und jetzt Gefahr läuft, als ungeliebter Geizhals einsam zu sterben, bewirken in ihm einen radikalen Sinneswandel.

Er unterstützt die Familie seines armen Kommis und trägt dazu bei, dass dessen kleiner Sohn Tim eine schwere Krankheit überwindet; mit der Familie seines Neffen tritt er wieder in warmen Kontakt. Weihnachten als wundersames Fest der Liebe: "Er wurde ein so guter Freund und ein so guter Mensch, wie nur die liebe alte City oder jedes andere liebe alte Städtchen oder Dorf in der lieben alten Welt je einen Freund und Menschen gesehen hat."

Gangster als Erschaffer

Ernst Stein, der einsame Protagonist in Norbert Silberbauers Weihnachtsgeschichte des Jahres 2006, ist ein großer Anhänger von Dickens' Christmas Carol in Prose - er liest es allerdings auf ganz andere Weise. Schon bei den James-Bond-Filmen hielt Stein es immer mit den Gangstern, die für ihn "Visionäre, Denker, Erschaffer" sind, im Unterschied zu Bond, dessen "Agentennummer 007 denn auch wie die siebente Klotüre auf der rechten Seite" klingt. Er hält die Bond-Videos auch immer kurz vor Ende an, um den billigen Triumph des Agenten nicht miterleben zu müssen. Für Ernst Stein, den steinreichen Inhaber einer Personalagentur, hat Dickens' Geschichte ein trauriges Plot.

Aus einem aufrechten Menschen, der den Gang der Welt durchschaut und sich nicht von weihnachtlichen Nostalgiegefühlen einlullen lässt, wird ein bedauernswerter Weichling: "Die Erinnerung ist Teufels Werk . . .Scrooge leidet, Ernst ärgert sich über ihn und leidet auch." Die überwältigende Frage, die den Leser von Silberbauers Neuinterpretation des Textes nun bedrängt, ist: Wird schließlich auch Ernst Stein dem weihnachtlichen Weltgeist unterliegen?

Kapital statt Spielzeug

Tatsächlich - und gerade aus der intimen Kenntnis des Dickens'schen Werks heraus - scheint Stein gewarnt und besser gerüstet zu sein, sentimentaler Versuchung zu widerstehen. Schon als Kind verkaufte er seine Weihnachtsgeschenke baldmöglichst an seine Mitschüler: "Nach ein paar Wochen waren die verkauften Spielsachen kaputt, sein Geld hingegen nicht." Was seine Eltern als undankbar und herzlos interpretieren, hat jedoch seine guten Gründe. Mit harten Worten legt Stein retrospektiv die Weihnachtsqualen seiner Kindheit offen. Mit dem "Festüberfressen-Essen schritt die Mutter zur Sprengung ihrer Familie": "Wie der Vater knöpfte auch Ernst sich nach dem Essen die Hose auf. Vorsichtshalber, wenngleich er noch nie gehört hatte, dass ein Mensch explodiert ist. Die Weihnachtskekse mußten auch noch runter. Am Ende des Lebens sah der Vater aus wie ein Shrimp. Der Sprengungsplan der Mutter hatte funktioniert."

War bei Dickens der Reichtum Grund für die Missachtung des Festes der Liebe, so hat für Silberbauer die klein- und großbürgerliche Konsumgesellschaft dieses Fest selbst zerstört. Bei dieser Weihnachtssatire gibt es für alle Altersstufen etwas. Die einen dürfen sich in die Beengtheit der österreichischen Wohnzimmer der 1960er- und 1970er-Jahre zurückdenken, wo Weihnachten mit der Frage endete, ob man die Feiertage "gut überstanden" habe; die Jüngeren dürfen sich über Wiener Einfamilienhausviertel mit Heerscharen von beleuchteten Weihnachtsmännern amüsieren.

Kotzen auf Weihnachten

Stein, der sich darüber freut, wenn es zu Weihnachten keinen Schnee gibt, sondern regnet, und auf die weihnachtliche Stadt am liebsten "kotzen" möchte, macht nur den Anschein eines boshaften, verbitterten älteren Geschäftsmanns. In vielen Bereichen trifft seine Kritik. Die kluge Einsicht, Dickens romantisiere die Armut, wendet der Analytiker auf sein eigenes Leben an. Der "Weihnachtswahn" verblöde die Menschen. Beim Gedanken an "Benefizfressen für den Welthunger", zu denen er häufig eingeladen wird, möchte er sich übergeben. In einem Baumarkt hat er ein Schlüsselerlebnis: "Eine Bohrmaschine weihnachtlich verpacken - was für ein Irrsinn."

Und dennoch bleibt auch Ernst Stein nicht völlig konsequent, und das nicht nur wegen seines Grundstücks mit Ameisenhaufen, auf dem er Luft zu holen vermag und sein Einzelgängertum pflegt. Das jedoch soll hier nicht verraten werden, sondern - neben der Aussicht auf einen außergewöhnlich konsequenten stilistischen Leckerbissen - zum Konsum verleiten. Silberbauers köstliche 99-seitige Geschichte ist Antiweihnachtsbuch und Weihnachtsbuch zugleich - und sicherlich seit Langem das Beste, was in diesem Genre auf den Gabentisch gelegt wurde. (DER STANDARD Printausgabe, 16/17.12.2006)