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Lambert Hamel

Foto: AP/Kerstin Joensson

Einen größeren Schrecken kann es für ein Kind nicht geben: weggeschickt zu werden, auch wenn es daheim noch so entsetzlich zugehen mochte, in einen Erholungsurlaub, an dem man gar nicht teilnehmen möchte - und dann, aus Traunstein in Oberbayern kommend, als vielleicht zehnjähriger Knabe, um zu erfahren, dass die Reise nicht, wie angenommen, nach Saalfelden im Salzburger Land geht, sondern nach Saalfeld in Thüringen, weit, unendlich weit weg.

"Flennend entfernte ich mich in der immer tiefer werdenden Nacht vom Zuhause, das jetzt sein wahres und entsetzliches Gesicht zeigte", schreibt Thomas Bernhard in "Ein Kind", der Geschichte seines Kinderlebens. Diese Geschichte ist das vielleicht schlimmste Ereignis in diesen Erinnerungen, die nicht viel mehr als Schmerzen und Demütigungen birgt. Und doch kommt einer der größten Schriftsteller der deutschsprachigen Literatur nach dem Krieg aus diesem Leid hervor.

Atemlos wird diese Geschichte von Thomas Bernhard erzählt, ohne Absätze, geradewegs, wie ihm die Erinnerungen in den Kopf geraten, und erst, wenn er gar nicht mehr kann, wenn er Luft schöpfen muss, macht er einen Punkt. Wer diesen Text spricht, muss diesem Diktat folgen, er darf erst dann innehalten, wenn Thomas Bernhard es zulässt. Dabei ist dieses Luftholen-Können etwas ganz Entscheidendes für diesen Schriftsteller - in ihm, oder genauer: unter der Last, dem Druck, der Not, die das Atemholen zumindest in der subjektiven Wahrnehmung verhindert, äußert sich die ganze Verzweiflung, die über Thomas Bernhards Leben liegt. Mit kurzem Wellenschlag, aber ohne Pausen kommt dieser Text daher, und so muss man ihn lesen: als Ergriffener, als Mitgerissener.

Deswegen ist es mir ganz unmöglich gewesen, dieses Buch ruhig zu lesen, sitzend, mit den Händen brav auf dem Tisch. Ich musste mich bewegen, den imaginären Milcheimer um meinen Kopf kreisen lassen, ich musste erregt sein, wie Thomas Bernhard es war, als er dieses Buch schrieb. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22.12.2006)