Chandler Brossard, "Wacht auf! Wir sind gleich da!". Aus dem Amerikanischen von Bernhard Schmid. ¬ 41,-/764 Seiten. Rogner & Bernhard, Berlin 2006

Buchcover: Rogner & Bernhard
Wie lässt sich dieses 764-Seiten-Ungetüm bezwingen? Am besten stürzt sich der Leser furchtlos ins Getümmel. Schnell wird klar: Chandler Brossard beißt nicht. Er schreibt sogar äußerst unterhaltsam. Zwar macht er sich wiederholt der Sünde der Weitschweifigkeit schuldig, aber gerade dieses Um-keinen-Preis-auf-den-Punkt-kommen-Wollen ist es, für das man ihn spätestens dann liebt, wenn man am anderen Ende seines Romans wieder das Tageslicht erblickt.

In Empfang genommen wird man von einem namenlosen Ich-Erzähler, der sich in bester Sechzigerjahre-Manier treiben lässt. Er philosophiert und disputiert für sein Leben gern, schätzt aber genauso die Gesellschaft der einfachen Saufbrüder vorm Supermarkt. Er besucht einen Zen-Lehrer, streitet sich mit seiner Frau, lässt sich auf einer Friedensdemo verprügeln, eröffnet ein Obstgeschäft, übt sich in sexuellem Hochleistungssport und, und, und. Mit anderen Worten: Diesem Mann ist nichts fremd.

"Ich bin, wie Sie mittlerweile sicher gemerkt haben, der universelle Typ, der sich in den Marschen Südostasiens ebenso absurd zu Hause fühlt wie in einem Baumhaus im Wipfel eines gigantischen Redwood; ich fühle mich in der Süffisanz Pariser Salons nicht weniger in meinem Element als beim Nachtflug über die schaurigen Weiten des Greenwich Village. Nichts und niemand ist unter meiner Würde. Ja im Gegenteil, mich interessieren alle und jeder. Ich würde King Kong einen blasen - wenn er mich lässt und Lust darauf hat."

Brossards Held erweist sich als intelligenter Schwätzer, der im Parlierton seine Abenteuer zwischen Leintüchern und transzendentaler Meditation vor dem Leser ausbreitet. Besonders faszinierend ist daran die Fülle an Tonlagen, die er sich für seine Schilderungen angeeignet hat, ohne dabei je ins Prätentiöse abzuschmieren. Der hier erzählt, erweist sich alsbald als ebenso glänzender Stilist, wie er als unkonventioneller Freigeist meist gute Figur macht.

Der hier erzählt, ist kein anderer als Chandler Brossard. Der Autor, der 1922 in Idaho geboren wurde, den Großteil seines Lebens in New York verbracht hat und 1993 ebendort verstorben ist, gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der US-Literatur. Sein erster Roman Who Walk In Darkness erschien 1952 und gilt als früher Höhepunkt der Beatliteratur. Dennoch blieb Brossard, der von der Hand in den Mund lebte und nur unregelmäßig in Kleinverlagen publizierte, ein Geheimtipp. Weil sich seine Bücher schlecht einordnen ließen, wurde er zu Unrecht als schwieriger Autor abgestempelt und infolgedessen weitgehend übersehen.

Wacht auf! Wir sind gleich da!, sein im Original vor 35 Jahren erschienener fröhlicher Abgesang auf die Sechzigerjahre, ist der erste Text überhaupt, der nun von ihm auf Deutsch vorliegt. Von Bernhard Schmid in liebevoller Detailarbeit übersetzt, präsentiert sich der Roman, der zu Beginn wie ein Vorläufer der bizarren Fantasien von T. C. Boyle oder John Irving anmutet, nach und nach immer mehr als ein sehr ernstes Werk über die Welt im Wandel.

Je weiter sich der Leser ins Herz des Buches wagt, desto finsterer wird es. Brossards Witz mildert manche Spitze ab, doch im Kern handelt es sich hier um ein pessimistisches Buch, das sehr stark unter dem Eindruck des Vietnamkriegs steht - der ultimativen Desillusionierung in der Biografie aller Amerikaner, die in den Sechzigerjahren jung waren. Diesem Trauma versucht sich Brossard durch allerlei Rollenspiele zu entziehen.

Ausgehend von der Vorstellung, das Wachbewusstsein sei nur eine Art von Bewusstsein, träumt und halluziniert sich der Erzähler in verschiedene Figuren hinein, die ihm im Laufe der Handlung begegnen. Auch diese Personen verfügen über keine feste Identität, können in einer Szene im New York der Sechziger leben und schon in der nächsten im Italien der Vierziger gegen die Faschisten kämpfen.

Der erzählerische Trip hebt bald jede Logik von Ursache und Wirkung, von Zeit und Raum auf. Man muss jedoch kein Apologet der Postmoderne sein, um sich an diesen Ausschweifungen ergötzen zu können. Es geht hier weniger um meta-literarische Mätzchen als um ein grundsätzliches In-Frage-Stellen jener Ansichten und Werte, die man gemeinhin unter braven Begriffen wie Vernunft oder Sinn subsumiert.

Dem Wahn-Sinn des bürgerlichen Lebens war für Brossard, den Autor, nur durch jene Schizophrenie beizukommen, die Brossard, den Menschen, zeitlebens quälte. Die Praxis seines Schreibens bezeichnete er einmal schön als "Selbstgespräche mit verschiedenen Stimmen." Was diese Stimmen von sich geben, hat ihn mitunter ebenso schwindlig gemacht wie den Leser: "Die Party hier ist keine Party, Herrgott noch mal! Ich habe das hier geschrieben, und jetzt ist es zum Leben erwacht. Mit mir mittendrin." Das erste Getränk geht aufs Haus, bitte eintreten! (Sebastian Fasthuber/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 13./14.1.2007)