Was ist geschehen? Nach 14 Stunden und 52 Minuten Spielzeit ist das
"Shrovetide Match" zu Ende gegangen. Ashbourne kann aufatmen,
denn schließlich steht eine über 400 Jahre alte Tradition auf dem
Spiel. Noch nie gab es zwei Jahre hintereinander ein "Double Nil",
torlose Spiele an beiden Tagen des Duells Up'ards gegen Down'ards, Oberstadt
gegen Unterstadt, oder einfach: des Derbys.
Pflichtprogramm für Fußballfans
Die kleine Gemeinde pflegt den lokalen Wettstreit im so genannten "Hug
Football", dem Massenfußball, so lange und so originalgetreu wie
keine andere Stadt der Welt. Erstmals wurde das Spiel im 16. Jahrhundert im nur
dreißig Kilometer entfernten Derby ausgetragen. Dort verbot die Obrigkeit
den Wettstreit jedoch alsbald. Ashbourne in Derbyshire wahrte hingegen die
Tradition. Für Fußballfans mit einem Faible für die Erforschung
der Wurzeln des Sports ist der Besuch in Ashbourne an Faschingsdienstag und
Aschermittwoch Pflicht - man muss sich ja nicht gleich wie der alljährlich
anreisende Japaner Aki ins Getümmel stürzen.
Zwei Tage Hass und Feinschaft
"Das erste Mal dürfte das Spiel im Jahr 1600 oder 1601 nach der Rückkehr Charles I. ausgetragen worden sein", sagt Lindsey Porter, Heimatkundler und Chronist des "Shrovetide Matches". Vor einigen Jahren hat er ein 220 Seiten starke Standardwerk über das Spiel verfasst, nun jagt er Winter für Winter an Shrove Tuesday und Ash Wednesday weiterhin voller Neugier mit seiner Kamera dem Spiel hinterher. "Das Spiel ist ein Faszinosum. Zwei Tage lang hassen sich beste Freunde und gar Ehepartner, wenn sie zu verschiedenen Teams gehören. Am Donnerstag mögen sich aber alle wieder wie immer." Porter misst dem Spiel einen kathartischen Effekt bei. So wie die Bischöfe hier zu Lande in früheren Jahrhunderten das orgiastische Feiern ihrer Schäfchen im Zeichen der Narrenfreiheit als Ausschweifung vor der Fastenzeit duldeten, so dürfen in Ashbourne Nachbarn miteinander rangeln und hin und wieder die Fäuste fliegen lassen.
Die Spielregeln sind dabei denkbar einfach: Der Ball wird vornehmlich mit der Kraft der rangelnden Menge vorangetrieben. Ganz Ashbourne ist das Spielfeld. Nur der Friedhof, Häuser und private Gärten sind tabu. Ziel des Spiels ist es, den Ball zum "Tor" zu befördern - in Wahrheit handelt es sich um zwei große Steine, die direkt am Ufer des Baches stehen. Der Haken: Die beiden Tore stehen knapp fünf Kilometer auseinander.
Das "Shrovetide Match" wird jeweils um 14 Uhr mit dem traditionellen
Einwurf eröffnet. Wird vor 17 Uhr ein Tor erzielt, gibt es einen erneuten
Einwurf. Fällt ein Tor nach 17 Uhr, wird für den Tag abgebrochen,
sonst dauert der Kampf bis 22 Uhr.
Vorkehrungen werden getroffen
Die Einwohner Ashbournes sind wohl vorbereitet: Die Schaufenster der Geschäfte sind durch dicke Balken geschützt, damit die Menge sie nicht im Eifer des Gefechts eindrückt. Autos werden wohlweislich außerhalb des Ortes in Sicherheit gebracht. Rund 250 Ashbournians, die sich seit Monaten mit wöchentlichem Training vorbereitet haben, nehmen am Spiel teil, weitere rund 3000 bis 4000 der insgesamt 6500 Einwohner singen zunächst die Hymnen auf England und das Königreich mit und verfolgen anschließend das Geschehen aus dem respektvollen Abstand einiger Meter. Zwar ist das Spiel meist eine sehr statische Angelegenheit, weil dutzende Menschen in einem riesengroßen Knäuel verhakt sind, wie beim Rugby drängeln und schieben und an einem einzigen Ball zerren, der den doppelten Umfang eines Fußballs besitzt und auch wegen seiner harten Korkfüllung und seines Gewichts zum Kicken denkbar ungeeignet ist. Der Ball wird stattdessen höchstens einmal ein paar Meter weit geworfen, wenn ihn einer der Mitstreiter oberhalb des Gerangels zu fassen kriegt.
Ein statisches Spiel
Ganz selten entwischt einmal einer der schnellen Läufer mit dem Ball, dann
rollt sich die Menschenmasse gewaltig schnell in der Verfolgung die Straßen
entlang. In diesen Momenten macht sich der Sicherheitsabstand bezahlt. Denn
dann walten rohe Kräfte einigermaßen sinnlos, eine Menschenlawine
rollt auf die Zuschauer zu, die unversehens von unbeteiligten Beobachtern zu
eingequetschten Mitspielern werden. Dann kann es an Mauern oder
Hauswänden ungemütlich werden, was Mütter und Väter
nicht hindert, ihre Kleinkinder zum Zuschauen mitzubringen.
Hinein ins kühle Nass
Wenige Meter weiter erlahmt der Kampf dann wieder. Manchmal wird auch das Wort Spielfluss ganz wortgetreu in den Kampf eingeführt. Dann findet der Ball seinen Weg in den River Henmore, der die beiden Ortsteile Ashbournes voneinander trennt. Im hüfttiefen Wasser plätschert das Spiel dann dahin. Vor allem die Down'ards verlagern das Geschehen gern ins feuchte Element. Denn ihr Tor an Cliffton Mill, einer ehemaligen Mühle, liegt anderthalb Meilen flussabwärts der Ortsmitte. Strömung und Gefälle helfen ihnen auf dem Weg zum Ziel, während die Up'ards den Ball anderthalb Meilen flussaufwärts treiben müssen. "Zudem spezialisieren wir uns schon von jeher auf das ,River Play'", erläutert Ernie Grant. Der Mittsechziger ist eines der Originale unter den Down'ards. Am Vorabend des Matches gibt er im "Wheel Inn", der Stammkneipe seines Teams, die großen Geschichten aus der Historie immer wieder zum Besten, um die jüngeren Generationen und Zugereiste an den Respekt gegenüber "ye olde game" zu gemahnen.