Wer zwei Schritte vorwärts machen will, muss ab und zu einen zurückweichen. So will es ein französisches Sprichwort ("Reculer pour mieux sauter"), und so will es Frankreichs stärkste Politikerin, Martine Aubry. Die 49-jährige Sozialministerin, Wunschpräsidentin vieler Franzosen und Feindbild so mancher FPÖ-Anhänger, hat angekündigt, dass sie ihren Job im Herbst aufgeben wird. Natürlich nicht, um Briefmarken zu sammeln: Die Linkskatholikin hat den gleichen politischen Glauben wie ihr Vater, der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors. Die Eliteschulabgängerin und Nummer zwei der aktuellen Regierung will die Hemdsärmel hochkrempeln und sich in den lokalen Wahlkampf der nordfranzösischen Stadt Lille stürzen, um dort im März 2001 Bürgermeisterin zu werden. Dazu gibt sie sogar wichtige Sachdossiers, die ihr persönlich am Herzen liegen, aus der Hand: Die von ihr initiierte 35-Stunden-Woche, die zu Jahresbeginn in Kraft trat, ist noch längst nicht über den Berg, und in der EU übt Frankreich noch bis Ende des Jahres die Ratspräsidentschaft aus. Bei der informellen Tagung der 15 europäischen Sozialminister in Paris musste sich Aubry prompt gegen den Vorwurf verteidigen, gerade zur Halbzeit abzutreten. Aber bei Aubry paaren sich eben tiefe Überzeugung und persönlicher Ehrgeiz, Starrsinn und Flexibilität. Dies zeigte sich auch vor einer Woche, als Aubry die FPÖ-Amtskollegin Elisabeth Sickl ganz plötzlich nicht mehr boykottierte, nachdem sie im Februar in Lissabon beim Eintreffen der Österreicherin noch demonstrativ das Weite gesucht hatte. Sie habe als Sitzungspräsidentin "mit der notwendigen Höflichkeit" gehandelt, erklärt nun Aubry, die in Paris als Hardlinerin gegen die Regierungsbeteiligung der Haider-Partei in Wien gilt. "Doch ich sah mich nicht zu einer freundlichen Geste gezwungen, die mein Gewissen nicht erlaubt hätte." Und jetzt hat Dickschädel Aubry nun mal Lille im Visier. Bürgermeisterin einer solchen Metropole zu sein wiegt in Frankreich mehr als ein vergänglicher Ministerposten. "Lille" ist ein Sprungbrett für die Rückkehr nach Paris, das heißt für höchste politische Weihen. Laut einer Umfrage von vorigem Wochenende sehen 28 Prozent der Franzosen Martine Aubry als Nachfolgerin von Premierminister Jospin, falls dieser im Jahre 2002 zum Präsidenten gewählt würde. Im Frühling hatte eine andere Meinungsumfrage ergeben, dass die seit 1973 verheiratete Mutter einer Tochter die Wunschkandidatin von 27 Prozent der Linken wäre, falls Jospin nicht als Präsidentschaftskandidat anträte. Das Elysée wäre momentan noch etwas hoch gegriffen. Doch Aubry, diesen August erst gerade fünfzig, hat viel Zeit und Geduld. Stefan Brändle