"Der Zufall und der Tod sind nicht unergründlich, sie haben gemeinsam diese beruhigende Regelmäßigkeit": Sabine Gruber.
Foto: STANDARD/Marko Lipus
Mira ist Altenpflegerin in einem römischen Pflegeheim und mit Vittorio verheiratet, der alte Designermöbel verkauft und nicht mehr mit ihr schläft. Sie ist erschöpft von ihrer Arbeit und beunruhigt vom Verdacht, dass ihr Mann fremdgeht. Irma ist Kulturjournalistin in Wien, interviewt Menschen mit aussterbenden Handwerksberufen, lebt mit ihrem kleinen Sohn Florian alleine und ist Dialysepatientin mit der Hoffnung auf eine Transplantation.

Das sind die Ausgangspunkte in den beiden Lebensfäden, die Sabine Gruber in ihrem dritten Roman Über Nacht weiterspinnt und die zunächst keine Berührungspunkte haben. Sie erzählt in abwechselnden Kapiteln von Miras und Irmas jeweils entscheidenden Lebensphasen, die bestimmt sind vom Zufall, gleichermaßen Lebens- und Todesmacht. Es sind Zufälle, denen wir Leben verdanken und die Leben auslöschen.

"Man kann sich auf den Zufall verlassen" steht auf Vittorios Einladungskarte zur Geschäftseröffnung. Aber wie soll sich Mira den Fund eines unbekannten Schlüssels in Vittorios Laden oder die leeren Bierflaschen in der Wohnung erklären? Ist sie tatsächlich leichtgläubig und verliebt sie sich gerade in Rino, den Neffen eines von ihr betreuten Heimbewohners? Warum ist es ihr nie in den Sinn gekommen, dass Vittorio vielleicht Männer liebt? Kurz vor der Transplantation spricht Irma leise in ihr Diktafon: "Der Zufall und der Tod sind nicht unergründlich, sie haben gemeinsam diese beruhigende Regelmäßigkeit." Welcher Zufall hat es ermöglicht, dass sie eine zweite Chance bekommen hat, die ein anderer oder eine andere verloren hat?

Die beiden Geschichten werden miteinander verknüpft, wie schon die beiden anagrammatisch aufeinander bezogenen Namen Mira und Irma andeuten, bis sich die aus der Ichperspektive erzählte Geschichte Miras in der Überlebensgeschichte von Irma auflöst. Sosehr der Zufall thematisch ausgelotet wird, so wenig Rolle spielt er in der kunstvollen und vielschichtigen Komposition des Romans. Dass Irmas Schicksal in der dritten Person erzählt ist, verweist in diesem Fall nicht auf die Distanz, sondern ganz im Gegenteil auf die besondere Nähe der Autorin zu ihrer Figur oder genauer, zu ihrem Körperschicksal.

Schon in Sabine Grubers Roman Die Zumutung war das zentrale Thema die chronische Nierenkrankheit der Protagonistin Marianne, die am Ende zur Dialysepatientin wird und damit ihr Leben verlängern kann. Der neue Roman Über Nacht kann als Fortsetzung gelesen werden, und Marianne taucht als vitale Nebenfigur wieder auf, die nach wie vor auf eine Transplantation warten muss und alles sammelt, was die Gegner der Transplantationschirurgie vorbringen. Irma ist sich sicher: Auf den Inhalt des Lebens kommt es an, nicht auf die Dauer, kann nur jemand sagen, der nicht wusste, "was es bedeutete, ein gestörtes Selbstbild zu besitzen, noch dazu eines, das nicht nur vom eigenen nahen Tod, sondern auch vom Tod eines Fremden bestimmt war".

Über Nacht ist Irma mit der Frage konfrontiert: "Wie nehme ich mich heraus aus diesem anderen Leben, das doch in mich hineingepflanzt worden ist?" Die Annahme eines Organs funktioniert nur, wenn die Übertragung klappt, also der Körper das neue Organ nicht abstößt. Und deshalb spielen im Roman Transformationen und Übersetzungen eine wichtige Rolle beim Überleben.

Irma bekommt von der Medizin keine Auskunft über den Spender des Organs, recherchiert in Zeitungen über Unfälle, um festzustellen, dass es zu nichts führt. Mit Davide, dem Lebensgefährten ihres Bruders Richard, fliegt sie nach Rom, um nach vielen vergeblichen Versuchen endlich den Vater ihres Sohnes ausfindig zu machen. Doch sie kehrt nur mit dem Foto von Rino nach Hause zurück, die Geschichte dazu wird Irma erfinden müssen. Bei einem Interview mit einem Schriftsetzer lernt sie zufällig dessen Sohn Friedrich kennen und lieben und kann sich eine gemeinsame Zukunft zumindest vorstellen, nachdem sich für sie das "Sterben auf Raten" in ein "Leben auf Raten" verwandelt hatte.

Sabine Gruber spannt in ihrem Roman ein vielschichtiges motivisches Verweisungsnetz über die beiden komplementären Frauenleben und entwirft ein Panorama von Lebensmodellen in den Metropolen Rom und Wien. Fokus ihrer Gesellschaftsanalyse ist der Körper in all seiner Vielfalt und all seinen Bedürfnissen.

Gleichermaßen präzise wie diskret entwickelt Sabine Gruber Lebensgeschichten als Körpergeschichten, beschreibt Sinnlichkeit und Sexualität ebenso wie Alter und Krankheit. Sensibel und unsentimental erzählt sie vom Leben der Alten im Heim, von dem ein Bewohner überzeugt ist, dass es "kein Pflegeheim, sondern eine Demolierungsanstalt" ist und von der Arbeit der Pflegerinnen unter dem Druck der Einsparungsmaßnahmen.

Auch die Argumente für und wider die Transplantationschirurgie und die Debatte um die Bestimmung des Todes fügt sich selbstverständlich in das Textgewebe ein.

Gerade weil Sabine Gruber diese Themen ebenso genau wie bilderreich auslotet, ist ihr Roman ein sehr persönliches und wunderbar leichtes, poetisches Plädoyer für das Leben, die Liebe und die Literatur. Am Ende werden mit Verweis auf die Moiren/Parzen, die mythologischen Schicksalsgöttinnen, die Lebensfäden mit dem Anfang des Romans verknüpft. Erzählen ist eine existenzielle Lebensnotwendigkeit, das Erfinden kann ersetzen, wozu das Körpergedächtnis nicht in der Lage ist. Irma bereitet sich auf ein Interview mit einem Südtiroler Vogelfänger vor, erinnert sich an den Flug der Stare in Rom und beginnt zu schreiben. "So könnte es gehen, dachte Irma. Ich werde mir meine Tote erfinden. Ich muß ihr das Leben zurückgeben." (Christa Gürtler, DER STANDARD, Print, 10./11.2.2007)