Durch meterdicke Mauern von der Außenwelt getrennt, residiert man in den "Riads", den herrschaftlichen Häusern, in der Medina von Marrakesch.

Foto: Riad Kaiss
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Jeden Nachmittag kommen sie und spielen Fußball. Sie bleiben bis spätabends, kicken im Schein der alten Laternen vor der Haustür, dribbeln den Ball durch die sandige graue Gasse, als ginge es um den Weltmeistertitel. Sechs, sieben Buben sind es jedes Mal, und manchmal schaut ein Mädchen zu. Teams gibt es nicht. Jeder spielt mit jedem, jeder gegen jeden. Mahmud gegen Ahmed, Said gegen Ezzedine und all die anderen. Ballbesitz zählt - und der Schuss auf die Hauswand, die viele hundert Flanken lang das Tor doubelt.

Zwölf Meter lang, keine zwei Meter breit - das ist ihr Spielfeld. Es ist die Gasse in der Medina von Marrakesch, die zur Haustür von Gabriele Noack-Späth führt. Die Frau hört nichts davon. Die Wände der Rue Derb Jdid im Viertel Douara Graoua schlucken jedes Geräusch, die Torschüsse, allen Jubel. Es sind mehr als einen Meter dicke Wände, jahrhundertealt, aus Lehm und Sand und ein paar handbemalten Fliesen. Fenster zur Straße gibt es nicht. Alles Licht, jedes Geräusch dringt ausschließlich vom Innenhof in die Räume, alle Türen, alle Fenster wenden sich der viereckigen Mitte des Hauses zu. Der Innenhof ist Garten, Balkon, Terrasse. Und er ist Wohnzimmer.

Lehm, Mörtel und Farbe

Herrschaftliche Häuser in der Altstadt, die "Riads", sind deshalb von außen kaum erkennbar. Sie sind einzig dem Wohlgefühl der Bewohner gewidmet, nicht eitler Außenwirkung. Und sie sind teure Immobilien geworden, seit es unter den Reichen und Berühmten vor allem Europas als "chic" gilt, ein Haus in Marrakesch zu besitzen - seit Yves Saint Laurent, Madonna, Mick Jagger, Alain Delon, Richard Branson und Isabelle Adjani ein paar Wochenenden des Jahres im Eigenheim irgendwo in der "Roten Stadt" aus Lehm, Mörtel und Farbe im Atlas-Gebirge verbringen. Und die Immobilien sind begehrt, seit immer mehr dieser Häuser im Labyrinth der Altstadt als kleine, individuelle Hotels aus Tausendundeiner Nacht betrieben werden, als komfortable Rückzugswinkel für Romantiker stark nachgefragt sind - wie das "Riad Noga" von Gabriele Noack-Späth in der Rue Derb Jdid, das "Riad Enija" von Björn Conerding, das "Riad Kaiss" von Christian Ferré und inzwischen mehrere Dutzend weitere.

Jedes dieser Häuser ist seine eigene Welt, individuell, anders, jedes hat seinen Klang, sein Gefühl. Etwa 750 solcher Wohnhäuser gibt es im historischen Zentrum von Marrakesch insgesamt - etwa zwei Drittel davon sollen bereits in ausländischem Besitz sein.

Vor zehn, fünfzehn Jahren noch wäre so etwas undenkbar gewesen: Als Ausländer durch die Altstadt von Marrakesch zu gehen war ein Spießrutenlauf, ein Ziehen und Zerren, ein Losreißen und Schimpfen, das an jeder Gabelung von Neuem begann. Die Händler waren aufdringlich, galten als die lästigsten Marokkos. Nur eine Zauberformel half, sich von ihnen zu lösen und ihnen sogar ein Lächeln ins Gesicht zu hexen: "Ana Marrakshi, mon ami" - "Ich bin Einheimischer, mein Freund", die Umschreibung für "Ich wohne hier, lass mich passieren."

Inzwischen ist das anders. Marrakesch ist ein bisschen moderner geworden, viel sauberer, nicht mehr aufdringlich. Das ist das Verdienst von König Mohammed VI. Er schickte viel Polizei durch die Gassen, ließ in jeder Hinsicht sauber machen, ordnete hartes Durchgreifen gegen Nepper und Schlepper, horrende Geldstrafen und Haft an, wollte seine Königsstadt zum Vorzeigeobjekt für alle Fremden machen. Er versprach den Händlern, dass sie mehr davon hätten - und behielt Recht.

Wer als Ausländer im Riad wohnt, kann heute aus der Tür treten und bleibt so unbehelligt wie im stillen Innenhof - und merkt plötzlich, dass es in der Altstadt Geräusche gibt: Das Hufklappern der Maultiere, die vor Fuhrwerke gespannt sind und über das holperige Pflaster einer Gasse traben, das Knattern von Motorradmotoren, Musik aus Kofferradios. Er merkt, dass es Gerüche gibt: den nach frischem Brot aus den Öfen der Quartiersbäckereien der Medina, den Gestank frisch gegerbter Felle, die Süße eines zerbrochenen Parfum-Flakons.

Verliebt in eine Stadt

"Marrakesch ist ein Gefühl", sagt Gabriele Noack-Späth, die vor elf Jahren kam - und blieb: "Ein paar Tage mittendrin zu wohnen ist der Beginn einer Liebesgeschichte mit dieser Stadt." Sieben Zimmer vermietet sie in ihrem Haus inzwischen, zwei Innenhöfe hat das Riad, einen Pool, mehrere Dachterrassen, dutzende Kerzen. "Es gibt Leute", erzählt sie, "die in der Medina einfach hängen bleiben. Erst lernen sie nur andere Europäer kennen, dann ihre Nachbarn. Und bald wollen sie gar nicht mehr weg."

Er bringt den Rhythmus von Marrakesch, trägt das Donnern von dutzenden Tamburinen herbei, das Stakkato der Hände, die ein paar hundert Meter weit weg immer schneller auf die stramm gespannten Häute der Trommeln einschlagen: Der Wind verteilt die Musik vom großen Gauklerplatz Djemma el Fna, dem "Platz der Geköpften", gleichmäßig über der Altstadt. Er bringt den gequetschten Klang der Ghaida-Flöten der Schlangenbeschwörer mit, später den Geruch der Garküchen, den Rauch der Feuer, die zu Füßen der Märchenerzähler auf dem Platz brennen. Und er lässt all das zusammen mit den Rufen der Muezzins von den Minaretten dutzender Moscheen über den versteckten Höfen fallen, über den Dächern - und über den Gassen, die den Abend lang das Fußballstadion eines Viertels sind.

Jeden Nachmittag beginnt der Zirkus auf dem Djemma el Fna. Er dauert im Sommer bis morgens früh um halb fünf, weil es vorher sowieso zu heiß zum Schlafengehen ist. Im Winter machen die Schlangenbeschwörer, die Wirte der Garküchen, die Feuerschlucker, Akrobaten und Märchenerzähler um kurz vor Mitternacht Feierabend, weil es dann empfindlich kühl wird und Zauber Wärme braucht. "Hast du einen Tag in Marokko", sagt ein Sprichwort, "verbringe ihn in Marrakesch. Hast du nur eine Stunde, verbringe sie auf dem Djemma el Fna."

Der Sternenhimmel kommt erst spät in der Nacht zum Vorschein, wenn der Wind die Lichter auspustet, die Reste der Rauchsäulen davonträgt und es für ein paar Stunden still wird. Wenn das Zirkuspublikum des Abends auf dem Heimweg ist, zurück durch die stillen Gassen zu den Riads, wird es verfolgt vom Widerhall der eigenen Schritte. Die Fußballer in der Rue Derb Jdid sind diese Nacht fast alle verschwunden. Nur Ezzedine und das Mädchen sind noch da. Sie sitzen auf dem Boden, eng beieinander, plaudern leise, lächeln. Und sie sagen "Bonsoir, bonne nuit" zu den Fremden, die am Ende der Sackgasse die Haustür aufschließen. (Helge Sobik/Der Standard/RONDO/16.2.2007)