Einen "Übersetzer der Welt" nannte sich Ryszard Kapuscinski einst im Interview. Die formenreich formlose Vielfalt des Lebens in das System der Buchstaben, der (polnischen) Sprache zu übertragen, hatte er im Laufe eines halben Jahrhunderts der Reportage zahlreiche Strategien entwickelt. Vor allem jedoch einen unbestechlichen Blick für das Detail. "Je näher man dem Detail kommt, desto näher ist man an der Realität", hatte er in einem Aufsatz über Fotografie geschrieben. Und: "Man schaut konkret, nicht abstrakt."

Konkret zu schauen hieß für Ryszard Kapuscinski jedoch mehr, als die Oberfläche der Welt zu betrachten. Fährtensucher der Wahrheit, blickte er tiefer - und verstand es, den Details - einzelnen Gesten ebenso wie Gegenständen oder Szenen - ihre verborgenen Aussagen abzulesen.

Wenige Tage nach seinem unerwarteten Tod am 23. Jänner erschien nun das jüngste seiner Bücher auf Deutsch (wie immer in der eleganten Übersetzung Martin Pollacks): Notizen eines Weltbürgers. Wie bereits Die Welt im Notizbuch enthält der knapp 300 Seiten starke Band tagebuchgleiche Beobachtungen und Reflexionen, Exzerpte aus Büchern, Zeitungen und Magazinen, anekdotische Schilderungen von Begegnungen (entlarvend: sein Blick auf Gerhard Schröder) und scheinbar nebensächlichen Ereignissen, lose gruppiert um Schwerpunkte wie Medien, Literatur oder Demokratie.

Oft sind es die Lücken, die seine kurzen Texte zum Klingen bringen - das, was er nicht sagt, was nicht gesagt werden muss, weil im Bewusstsein seiner Leser längst durch ihr eigenes Leben als Wissen verankert: So, wenn er die Wertlosigkeit materieller Güter in frühen Stammesgesellschaften schildert:

"Schwierige klimatische Bedingungen, Dürre, Brände, Epidemien haben in früheren Zeiten die Stämme gezwungen, ständig in Bewegung zu sein, herumzuziehen, zu wandern. Daher hatten sie nur wenig materielle, dauerhafte Güter und Gerätschaften. Alles war ein Provisorium, wurde kurzfristig hergestellt, ad hoc. In dieser Kultur mussten materielle Güter unablässig neu geschaffen werden. Nur die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Familien-, die Stammesbindungen waren von Dauer, weshalb man bedacht war, diese zu festigen und zu entwickeln."

Nur die zwischenmenschlichen Beziehungen waren von Dauer (...), weshalb man bedacht war, diese zu festigen und zu entwickeln: Worte eines Mannes, der fünfzig Jahre lang die Welt bereist hat, der in Afrika, Südamerika und Asien die Vergänglichkeit politischer Systeme, von Macht- und Besitzverhältnissen studierte. Worte, die desto eindringlicher nachhallen, als sie durch seinen Tod zu Abschiedsworten wurden, zu einem Vermächtnis.

Das Beharren auf der Pflege von Beziehungen durchzieht das Buch, liest man es als eine Summe seiner Erfahrungen, wie ein roter Faden. So, wenn er in einem Interview mit der Rundfunkstation der Pfadfinder auf die Frage "Was ist am wichtigsten bei der Freundschaft?" die unerwartete Antwort gibt: "Dass man an der Freundschaft arbeiten muss. Die Freundschaft kann von selber entstehen, doch um sie aufrechtzuerhalten, bedarf es gemeinsamer Anstrengungen, Pflege, Sorge, Unternehmungen. Man kann manchmal jemand klagen hören, er habe keine Freunde. Doch er soll erst einmal sagen, welche Anstrengungen er unternommen hat, um Freundschaft zu wecken und sie nachher zu bewahren, zu kultivieren, zu stärken?"

Worte, die dem amerikanisierten Zeitgeist in ihrer geradezu archaischen Strenge diametral entgegenstehen - und die doch weniger den biblischen Mahner verraten, der Ryszard Kapuscinski niemals war, als den Vertrauten mit der asiatischen, der afrikanischen Kultur, in deren Weisheitslehren Begriffe wie Disziplin weit positiver besetzt sind als in der europäischen Gegenwart - und vor allem: weit stärker im zwischenmenschlichen Bereich angesiedelt.

Ein letztes Beispiel jenes Vermächtnisses eines "Patrioten der Welt", wie er sich mit Chesterton nennt:

"Jahre des Reisens durch eine Welt anderer Kulturen. Was kann man daraus lernen? Was erfahren wir als das vorteilhafteste, beste, positivste Merkmal der Menschen? Die Freundlichkeit."

Die Freundlichkeit des Staunenden, der den Erscheinungen der Welt mit Offenheit begegnet, verkörperte Ryszard Kapuscinski, dieser "Detektiv des Anderen", ein Leben lang. "In jedem Fremden wohnt ein Gott", sagte er einmal im Gespräch. Diesen Gott zu entdecken, lautet nun sein Auftrag an uns. (Cornelia Niedermeier / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17/18.2.2007)