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Walentina Tereschkowa war die erste Frau im All.
Foto: Archiv
Ginge es nur nach dem Vater, müsste Walentin auf die Welt kommen und nicht Walentina. Und am besten direkt am 8. März, dem Internationalen Frauentag, als eine Art Geschenk für seine Frau. Der Mensch denkt - Gott lenkt: das Kind kam zwei Tage früher als gewünscht zur Welt, und es war ein Mädchen. Was Gott anbetrifft, so gab es damals in der Sowjetunion nur einen - Stalin. 1937, das Jahr in dem Walentina geboren wurde, war in der Geschichte des Landes eines der grausamsten: Erschießungen, Denunziation, Willkür... Vor all den Untaten des genialen Verbrechers schienen die Tereschkowys verschont zu bleiben. Ein paar Jahre später fällt Walentinas Vater jedoch an der Front.

Als der Zweite Weltkrieg sich seinem Ende nähert, geht die Kleine bereits zur Schule. Für "sehende Menschen" hat sich ihre Zukunft früh abgezeichnet: Schon mit zehn bastelt sie sich aus Bettlaken einen Fallschirm und springt damit von einem Baum. Beulen am Kopf und Schrammen im Gesicht waren die Folgen des Sturzes. Eine Hollywoodgeschichte par excellence.

Das Wettrennen um den Himmel war Sublimation des Dritten Weltkrieges

Die sowjetisch-amerikanische Waffenbruderschaft schlitterte unaufhaltsam in den "Kalten Krieg". Die amerikanische Wirtschaft boomte, jene der Sowjetunion dagegen war am Boden: der europäische Teil des Landes war durch den Krieg praktisch zerstört. Der Hunger 1947, Atomtests, Chruschtschows Anti-Stalin-Rede auf dem 20. Parteitag, der Kampf um den ersten Menschen im Weltall, Kubakrise - das war die Atmosphäre, in der Walentina Ihre Sozialisation erfuhr. Auch "die erste Frau im All" war (dem)entsprechend ins gesamte Propagandapaket hineinkonzipiert.

Die fünfundzwanzigjährige Walentina, eine begeisterte Sportfallschirmspringerin, war mehr als überrascht, als man sie mit vier anderen Sportlerinnen ins "Zentrum" einlud. Ihr, der Tochter einer armen Familie aus dem russischen Dorf Maslenikowo, ihr, die noch vor kurzem in einer Fabrik als Zuschneiderin arbeitete, war es beschieden Geschichte zu schreiben.

Sonntag, der 16. Juni 1963

Nikita Chruschtschow hat sich dieses Datum in seinem Kalender schon zwei Wochen davor rot angestrichen. Drei Tausend Kilometer von Moskau in einer öden Gegend Kasachstans östlich des Aralsees besteigt eine Frau im orangen Weltraumanzug die Raumkapsel "Wostok–5". Sie bekommt die Rufzeichen "Tschajka" - auf deutsch "Möwe". Nachdem die letzten Checks durchgeführt sind, zündeten die Triebwerke. Walentinas Mutter bügelte zu Hause, als plötzlich die Nachbarinnen heftig an ihre Tür klopften: "Komm schnell! Deine Walentina ist grade im Fernsehen in den Weltraum geflogen!!!".

Die "Tschajka" umkreiste 48-mal die Erde und landete bei Nowosibirsk. Das schwärzeste Schwarz des Alls, seine Grabesstille, das grelle weiße Licht der Sonne und das seltsame Blau des Planeten Erde wird Walentina nicht vergessen. Drei Tage Flug ermöglichten ihr eine neue Perspektive auf die existenzielle Probleme der Menschheit: "Unser Planet", soll sie damals begeistert aus kosmischer Höhe gerufen haben. Mit Betonung auf "unser".

"Botschafterin des Sozialismus

Drei Tage später, als die "Regierungs"-Iljuschin die frischgebackene Heldin der Sowjetunion nach Moskau brachte, erwarteten sie dort Mutter, Generalsekretär und großer Jubel. Da die Höhepunkte von Tereschkowas Laufbahn mit denen des Kalten Krieges zusammenfielen, mutierte die erste CCCP-Kosmonautin gezwungenermaßen zur "Botschafterin des Sozialismus". Genauso wie Gagarins Lächeln, trugen auch Tereschkowas Auslandsreisen sicherlich zur Demystifikation des "Sowjetmenschen" bei. Auszeichnungen, Prawda- und Izwestiasuperlative, Empfänge, formatierte Reden und Spatenstiche überrumpelten sie förmlich.

Was sie aufrechterhielt, war die Freundschaft zu Gagarin. Die Welt, die er sich aufgebaut hatte, gab es auch für diesen nicht mehr. Um sein Leben nicht zu gefährden, verhängte man über ihn Flugverbot. Tereschkowa erkannte die Tragik der Situation. Sie freute sich, als Gagarin endlich als Ersatzmann der "Sojuz 1" nominiert wurde, derjenigen Sojuz, die am 24.April 1967 mit W. Komarow abstürzen würde. Tereschkowa war geschockt. Ein Jahr später schreitet sie hinter Gagarins Urne über den Roten Platz: Nur 18 Tage nach seinem 34.Geburtstag, starb er bei einer MiG-Katastrophe nicht weit von Moskau.

Nach der Tereschkowa-Visite im Welttraum wurde im Deutschen der Begriff "der bemannten Raumfahrt" politisch unkorrekt

Tereschkowa gehört zu der Sorte exponierter Menschen, die sich dem Ritual der Offenbarung eher widerwillig aussetzen: Sie gibt kaum Interviews und erzählt nie über das Private. Unerwartet für viele heiratete sie fünf Monate nach ihrem Flug den Kosmonauten Andrian Nikolajew, den einzigen Junggesellen im Kosmonautentrupp. Verkuppelt – so die Gerüchte - soll die beiden Chruschtschow persönlich haben. Für die MedizinerInnen war die Heirat auch nicht ohne Interesse: Tereschkowa gebar bald ein gesundes Mädchen, Aljona. Doch die Kosmonauten-Ehe bekam einen Riss. Es kostete Tereschkowa viel Kraft und Mut, die Scheidung einzureichen und durchzusetzen.

Sie heiratet noch einmal. Einen Chirurgen. Diesmal war es eine große Liebe. Tereschkowas Ansuchen um den 2. Flug ins All im Jahre 1975 landete nach langem Hin und -her im Papierkorb. Tereschkowa entdeckt in sich die große Passion für Frauenrechte und nachdem sie den Posten der Vorsitzenden des Sowjetischen Frauenkomitees bekam, avancierte die Kosmonautin zu der letzten Petitionsinstanz.

"Die Zeit kennt keine Gnade"

Mit Lächeln erinnert sich die siebzigjährige Tereschkowa heute an ihre Landung bei der Rückkehr auf die Erde: wie sie – nachdem der Fallschirm aufggegangen ist – ganz weit unter sich einen See entdeckte. Vorm Notwassern hatte sie keine Angst, sie stellte sich nur vor, wie ihre Kollegen–Kosmonaten darüber lachen würden: "Man schickt ein einziges Mal eine Frau in den Orbit und diese schafft den einzigen See in der Gegend zu finden." Der Seitenwind war stark genug und Terschkowa verfehlte den See. Es gibt Dinge, über die sie nicht lachen kann: Über den Aberglauben unter den Kosmonauten, dass Frauen Unglück bringen, über die Sprüche wie "das erste Lebewesen im All (gemeint war die Hündin Laika) war doch Weibchen", über immer wieder strapazierte Gerüchte, sie habe bei der Landung Bewusstsein verloren, sei ins Krankenhaus gebracht worden und musste am nächsten Tag vor der Rückkehrkapsel die-Nach-der–Landungs-Szene nachstellen.

Das Fliegen ins All ist immer noch ein russisches Roulett

Das Jahr 1989. Michail Gorbatschow empfindet sein eigenes Leben und das Leben seiner Nation als absurdes Theater und wagt, das Rad der Zeit weiter vorwärts zu drehen. Tereschkowa wird zur Komplizin seiner Performance, ist froh über die Freiheiten und gleichzeitig geschockt: vieles unterliegt plötzlich nur dem Diktat von Angebot und Nachfrage, die Stärksten und die Frechsten starten Raubzüge und nennen es Privatisierung. Und dann gibt es die Sowjetunion nicht mehr.

Auch Walentina Tereschkowa muss einen Zugriff zu ihrer neuen Heimat Russland wiederfinden. Sie gehört zu der Sorte postsowjetischer Menschen, die ihrer UdSSR-Heimat nachtrauert, diese aber in der Form nicht wiederhaben haben will. Wenn irgendwo auf der Welt ein Raumschiff den Menschen auf den Orbit hievt, drückt sie diesem ihren Daumen: das Fliegen ins All unabhängig von der Nation ist immer noch ein russisches Roulett... Generalin Majorin Tereschkowa ist mittlerweile Witwe und lebt in Moskau.

PS: Am 12.Oktober 2000 wurde W. Tereschkowa in London mit dem Titel "Frau des Jahrhunderts" geehrt. Ein Tal auf dem Mond wurde zu ihrer Ehre benannt. (Volodymyr Brodzinskyi)