George erträgt die anfangs noch leisen Anfeindungen mit einem stoischen Gleichmut, wie ihn nur ein wahrer Engländer aufbringen kann. Das ist ja der Witz an Julian Barnes' Bestseller-Roman: Dass dieser George, "ein schüchterner, ernster Junge mit einem feinen Gespür für die Erwartungen anderer", weitaus mehr der Idealvorstellung eines guten Engländers entspricht als jene Zeitgenossen, die ihm das Leben schwer machen.
Neugierde und Abenteuerlust
Trotz jahrelangen Terrors durch einen Drohbriefschreiber führt George als junger Erwachsener ein leidlich zufriedenes Dasein. Er kann sich seinen Traum erfüllen, als Solicitor (das britische Wort für Rechtsanwalt hat einen so herrlichen Klang, dass es die Übersetzerin Gertraude Krueger dankenswerterweise nicht übersetzt hat) im nahe gelegenen Birmingham zu arbeiten. George lebt nach dem Muster des Zuges, den er täglich um 7.39 Uhr in Great Wyrley besteigt: auf sicheren, gewohnten Gleisen.
Ganz anders Arthur Conan Doyle, der Erfinder des Sherlock Holmes. Wo George sich aufgrund eines lange nicht behandelten Sehfehlers mit einem winzigen Ausschnitt des Weltgeschehens zufrieden gibt, pflegt Arthur bis ins hohe Alter eine kindliche Neugierde und Abenteuerlust. Er wächst im schottischen Edinburgh auf, erzogen von der Mutter, zu der er eine starke Bindung pflegt, aber er fühlt sich berufen, die Welt zu erobern.
Rechtssystem
Aber auch Arthur hat zu kämpfen. Seine erste Frau dämmert jahrelang im Krankenbett dem Tod entgegen. Der aufregenden Jean, die seine zweite Frau werden wird, wagt er sich nicht hinzugeben. Sherlock Holmes hat er zwischenzeitlich sterben lassen (später wird er, auf Druck der Leserschaft, wieder auferstehen). Arthur braucht dringend eine neue Aufgabe und findet sie in dem Fall George Edaljis.
In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts geht in Great Wyrley ein Pferdeschlitzer um. Er schneidet sauber und lässt sich nicht erwischen. Die Polizei braucht einen Schuldigen. Sie verfällt auf George, der immer noch im Haus der Eltern wohnt und jeden Abend über die Felder der Umgebung spaziert. Obwohl offensichtlich unschuldig, wird er lange und gründlich beschattet und schließlich auch festgenommen.
Georges Glauben an das englische Rechtssystem wird in den detailliert nacherzählten Passagen über seinen Prozess gründlich erschüttert. Da werden so lange Beweise gefälscht und Unkundige zu Instanzen ernannt, bis er irgendwann als schuldig feststeht und hinter Gitter wandert. Härter noch als die drei Jahre im Gefängnis trifft ihn, dass er nach der Entlassung nicht mehr als Solicitor wirken darf. So er nicht nachträglich für unschuldig befunden wird. In seiner Verzweiflung schreibt er an Arthur Conan Doyle.
Die beiden treffen einander in einem Hotel, verstehen sich gut. Arthur, der sich zum Spiritisten entwickelt hat, sieht George dessen Unschuldigkeit beim ersten Blick an. Und fühlt trotz der Unterschiede zwischen ihnen - George denkt und weiß lieber, anstatt zu sehen und zu fühlen - eine Verwandtschaft: "Sie und ich, George, Sie und ich, wir sind ... inoffizielle Engländer."
Leben von der Wiege bis zum Grab
Arthur verwandelt sich in Sherlock Holmes. Er rührt bei seinen Nachforschungen so ordentlich um, dass er das Innenministerium gegen sich aufbringt und die offizielle Wiederherstellung von Georges Ehre schließlich halbherzig ausfällt. "Dies und das ist geschehen, nun wollen wir es vergessen und weitermachen wie zuvor: Das war die englische Art. Etwas war falsch, etwas war gestört, aber nun ist es repariert, darum wollen wir so tun, als sei von Anfang an nicht viel falsch gewesen."
Der oft durch seine Frankophilie aufgefallene Barnes hat hier seinen bislang englischsten Roman geschrieben. Umso schöner, dass Arthur & George keine platte Feier des Englischseins ist, sondern stets eine feine ironische Distanz zu seinem Thema hält. Sicher, sagt Barnes durch seine Figuren, Ehrgefühl ist eine schöne Sache, wenn es jemand ernst damit meint und seine Lebenspraxis nach hehren Idealen ausrichtet. Der Hund ist nur, dass Ideale oft nur schwer mit dem täglichen Leben zusammengehen.
Alltagsrassismus
Barnes hält als Autor eine angenehme Distanz, mischt sich nicht ein und ist auch nicht versucht, Parallelen zwischen den Problemen eines indisch aussehenden jungen Mannes in England vor 100 Jahren und denen indisch aussehender junger Männer in England heute zu ziehen. Der Alltagsrassismus schwingt in dem Buch mit, er wird aber nicht als Erklärung für Georges Verurteilung herangezogen.