Meine Eltern", so meldete sich Marina Lewycka im November 2003 im Gästebuch von , "sind aus der Ukraine via Zindelfingen (sic) und Drachensee nach England gekommen." Ob ihr jemand Näheres über diese Orte sagen könne - Drachensee war im Dritten Reich ein Zwangsarbeitslager. Lewycka, selbst kurz nach dem Krieg in einem Lager in Kiel geboren, dürfte sich gründlich auf ihren familien- und autobiografisch durchtränkten ersten Roman vorbereitet haben. Sie hat ihn zudem mit einem Traktat über die forcierte Industrialisierung der Ukraine verflochten. Schließlich hat sie ihm eine Story übergestülpt - alter Witwer fällt auf wasserstoffblonde junge Erbschleicherin herein -, die Spaß garantieren sollte.

Tatsächlich wurde die Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch für den Man-Booker-Preis nominiert, erhielt Kritikerlorbeeren jenseits und diesseits des Kanals und liegt auf den vorderen Plätzen der Spiegel-Bestsellerliste.

Die Lektüre ist dann doch eher enttäuschend. Zwar erfährt der Leser einiges über die Nischen und Haken des britischen Wohlfahrtsstaates, der den alten Bräutigam, den Vater der Ich-Erzählerin Nadia, ebenso durchfüttert wie die großbusige Valentina, die aus Angst vor Abschiebung sich an alle rechtlichen Mittel klammert. Er erfährt noch viel mehr über die Vergangenheit der Familie und damit über das Schicksal eines riesigen Landes, dem alle Stürme des 20. Jahrhunderts übel mitgespielt haben. Der Vater, ein pensionierter Ingenieur, hat sich nämlich nicht nur die Mädchen, sondern auch die Traktoren seiner Heimat in den Kopf gesetzt, und so grenzdebil er auf dem einen Gebiet argumentiert, so (bis zur Unglaubwürdigkeit) brillant formuliert er seinen Rückblick auf den technischen Fortschritt, der dem Buch den Titel gibt. Und zunächst wie nebenbei, dann aber immer zentraler betreibt die Autorin den schmerzlichen Rückblick auf Vertreibung, Versklavung und Neuanfang in England.

Doch während hier immerhin Aufklärung geleistet wird, vermisst man bei dem Schlagabtausch zwischen der linksliberalen Nadia, ihrer karrieristischen Schwester Vera, dem Alten, der Jungen, ihrem Sohn und ihren Lovern die Spannung und die Saftigkeit, die den Roman zum Lesevergnügen machen würde. Wie die Sympathien der Schwestern hin- und herpendeln, gelegentlich sogar der völlig überzeichneten, monströsen Valentina gelten und sich wieder in Hassausbrüche verwandeln; wie die Liebhaber im rechten Moment auftreten und wieder aus der Handlung in die Anonymität der englischen Kleinstadt verschwinden: Das alles ist mühsam konstruiert und nicht Fisch nicht Fleisch. Am ehesten noch eine Filmvorlage.

Für diese Absicht sprechen der Titel des ersten Kapitels - Zwei Anrufe und eine Beerdigung - und so hübsche Arrangements wie ein kaputter Rolls-Royce im Vorgarten, vor allem aber das spekulativ ungleiche Paar. Über die Besetzung der Valentina kann man sich bereits Gedanken machen.

Am aufschlussreichsten ist das Buch letztlich als Geschichte der Traktoren (und der T34-Panzer sowie der Taten der Techniklegenden Sikorsky und Tupelow) mit zahlreichen Verweisen auf Websites. Alles andere? Wenn eine Geschichte einmal erzählt wird, denkt sich Nadia am Ende, kann sie nicht auf andere Weise wiedererzählt werden. Das ist das Problem. (Von Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.2.2007)