Die Sozialarbeiter wendeten das äußerste ihnen zur Verfügung stehende Mittel an, um eine schlimme "Entwicklung sofort zu unterbinden", erklärt der zuständige Landesrat Josef Ackerl. Wegen schwerer Verwahrlosung konnte die Behörde ohne richterlichen Beschluss die Kinder der Mutter abnehmen. Im Nachhinein muss sich die Jugendwohlfahrt aber dieses "äußerste Mittel" vom Gericht genehmigen lassen. 545-mal wurde in Österreich im Jahr 2005 diese "Maßnahme wegen Gefahr im Verzug" gesetzt, geht aus dem aktuellsten Jugendwohlfahrtsbericht hervor.
Sie ist aber die Ausnahme, wie die Zahlen zeigen. Mehr als 24.800 Kinder, deren Familien die Erziehunsprobleme nicht allein bewältigen konnten, erhielten in jenem Jahr Hilfe. Diese reicht von einer Unterstützung bei der Erziehung (Familientherapie) bis hin zur vollen Erziehung. Das bedeutet, die Kinder werden in einer Einrichtung oder von Pflegefamilien betreut. Die Trennung zwischen den leiblichen Eltern und dem Kind erfolge, so besagt die Statistik, meist mit Zustimmung von Mutter und/oder Vater (2005: 4018 freiwillige Fälle,1441 unfreiwillige, vom Pflegschaftsgericht angeordnete Fälle).
Kräfte zur Selbsthilfe
"Zu geringes Einkommen, beengter Wohnraum, häufig allein erziehend, die Mutter war selber als Kind fremd untergebracht. Alles Faktoren, die zu einer Überforderung der Erziehungsberechtigten führen können", sagt Stephan Reinsprecht, Familienberater beim Linzer Verein Hilfe für Eltern und Kinder. Die Einrichtung übernimmt im Auftrag der Jugendwohlfahrt sozialpädagogische Familienhilfe. Ziel ihrer auf knapp zwei Jahre angelegten Therapien ist es, "Kräfte zur Selbsthilfe" zu stärken. Eltern, meist Mütter, fühlen sich als Versager, weil sie ihrer Verantwortung nicht nachkommen können. Gemeinsam mit dem Sozialarbeiter wird ein Weg aus der Krise erarbeitet. Grundsätzlich lautet die Maxime, den Familienverbund nicht aufzulösen.
Im Fall der verwahrlosten Mädchen von Linz eine falsche Entscheidung, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte. Reinsprecht sieht darin aber eher ein individuelles Versagen als ein systemimmanentes Problem. Aus seiner Berufserfahrung weiß er, dass die Vernetzung der verschiedenen Stellen, Schulbehörden, Bezirkshauptmannschaften, Jugendwohlfahrt und Therapeuten, funktioniere. Zudem gebe es in Oberösterreich ein flächendeckendes Angebot von Interventionsstellen. Das Problem sei eher, dass man nicht wisse, "an welche Einrichtung ich mich in meinem speziellen Fall werden soll", erklärt Reinsprecht.
In Berlin hat die Polizei zur Lösung dieses Problems vor 20 Jahren ein eigenes Dezernat "Delikte gegen Schutzbefohlene" (siehe Interview) eingerichtet. Ein Team mit 17 Leuten arbeitet dort. Es kontrolliert gemeldete Verdachtsfälle und übernimmt die Erstabklärung. Erfahrungsgemäß sind es Nachbarn, Lehrer oder getrennt lebende Partner, die Auffälligkeiten melden.
Angst und Scham nennt Reinsprecht als Grund, warum auch in Österreich Eltern nicht von sich aus Unterstützung bei Familienproblemen suchen. Das negative Image der Jugendwohlfahrt als Fürsorge, die einem die Kinder wegnehme, sowie das Eingeständnis, versagt zu haben, hielten sie davon ab. (Kerstin Scheller, Bettina Fernsebner, DER STANDARD print, 3./4.3.2007)