Barcelona - Wenn die Musiker aus São Paolo heute in Wien für die Jeunesse ihre orchestrale Stimme erheben, ist die Donaustadt einfach eine von 16 Stationen auf einer großen Europatournee; für ihren Chefdirigenten John Neschling allerdings dürfte der Wienbesuch auch emotionellen Aufwand bedeuten. Der Großneffe von Arnold Schönberg und Dirigent Arthur Bodansky, Neschling, dessen Großvater Robert Bodansky einst Libretti zu einigen Operetten von Lehar schrieb – er kehrt in eine Stadt zurück, aus der seine Eltern 1938 vertrieben wurden.

"Es fällt mir noch heute prinzipiell schwer, hierher zu kommen. Aber das ist eine ganz persönliche Geschichte, sie hängt eben mit den Erfahrungen meiner Eltern zusammen. Mein Sohn hat hingegen gar kein Problem, nach Deutschland oder Österreich zu kommen. Für mich bleibt das aber eine Art Hassliebe, das steckt in mir. Da kann man nichts machen." Es ist für den 59-jährigen Neschling allerdings nicht die erste Rückkehr nach Wien. 1964 kam er, um bei Hans Swarowsky zu studieren; und in den 90er-Jahren hatte er einen Residenzvertrag an der Wiener Staatsoper.

Interessante Zeiten waren das – nicht frei allerdings von "seltsamen" Erlebnissen. "An der Hochschule hatte ich unter anderem einen Lehrer, der ein berühmter Antisemit war. Er hat das natürlich nie direkt ausgespielt, hat mich zum Beispiel nur Wagner spielen lassen, oder mich in Hinblick auf meinen Namen gequält, indem er fragte: ,Neschling, Neschling? Sagen Sie, ist das ein schwedischer Name?‘ Ich habe mich beschwert und bin auch von dem weggegangen."

Eine andere, grotesk bemerkenswerte Sache ereignete sich während Neschlings Zeit an der Staatsoper, als in ihm der Wunsch aufkam, neben der brasilianischen auch die österreichische Staatsbürgerschaft zu besitzen. "Mein Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, mein Vater hätte einen polnischen Pass gehabt. Das hat gestimmt, er hat aber, bis zu seiner Vertreibung, in Wien gelebt und nur Deutsch gesprochen."

Mittlerweile ist das Thema für Neschling erledigt. Er, der in Europa im Laufe seiner Karriere etliche Häuser zwischen Palermo, Bordeaux, St. Gallen und Lissabon geleitet hat, ist nun hauptsächlich in São Paolo tätig, denn hier durfte er eigentlich ein neues Orchester gründen, denn das Orchestra Sinfônica do Estado de São Paolo war ziemlich schlecht beisammen ... "Als die Einladung kam, stellte ich Bedingungen, von denen ich dachte, sie würden eigentlich unerfüllt bleiben." Doch wider Erwarten wurden 50 Millionen Dollar in einen neuen Konzertsaal investiert.

"Das war ein Signal, da wusste ich, die meinten es ernst." So kam die Sache ins Laufen, und Neschling räumte unsanft auf, machte aus dem Klangkörper zwei, eine A-Version, die seinen Vorstellungen entsprach. Und eine B-Version "mit Musikern, die die Prüfungen nicht schafften oder nicht machen wollten. Sie wurden normal weiterbezahlt; mir war es wichtig, dass es keine Kündigungen gibt."

<>Viele CDs

Von 97 Musikern blieben jedenfalls nicht mehr als 40 für das Qualitätsprojekt übrig, heute zählt das Orchester 110 Instrumentalisten, gibt 140 Konzerte im Jahr und ist auch nach Zahlen ein Erfolg. Man hat 11.000 Abonnenten, veröffentlicht an die 10 CDs pro Jahr (auch beim schwedischen Label BIS) und klingt auch in einem für Großbesetzungen nicht unheiklen, aber schönen Saal wie dem des Palau Musica Catalana in Barcelona intensiv und kompakt.

Wenn Neschling bei den Proben durchaus auch laut wird, rechtfertigt er dies mit "väterlichem" Gefühl für das Projekt: "Ich kann sanft sein und auch aggressiv, weil ich das Projekt von Anfang an entwickelt habe. Mein Nachfolger wird es schwerer haben."

Das Orchester will international reüssieren, leistet aber auch Basisarbeit daheim. Man lässt forschen und hat einen Musikverlag gegründet, der Schatzsuche betreibt: "Es gibt da unglaublich viel zu entdecken, Villa-Lobos allein hat 1200 Stücke geschrieben!" Das ist schön – auch für Neschling, der einst komponiert hat: "Ich habe in den 1970er-Jahren viel geschrieben, bin aber kein Komponist. Ich brauche die Musik der anderen!" (Ljubiša Tošic aus Barcelona/ DER STANDARD, Printausgabe, 20.03.2007)