Foto: DER STANDARD/Andreas Zedrosser/Scandinavian Brown Bear Project

Betäubungspfeile aus dem Hubschrauber: Wildtierforscher können auf diese Weise mehr über die Fortpflanzungsstrategien der Bären herausfinden.

Foto: DER STANDARD/Andreas Zedrosser/Scandinavian Brown Bear Project
Ziemlich turbulent geht es bei der Familienplanung der Braunbären zu, wie Biologen aus Österreich herausfanden: Die Weibchen sind promiskuitiv, die Männchen töten den Nachwuchs fremder Rivalen und mitunter sogar die Mütter, die dagegen raffinierte Strategien entwickeln.

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Große Beutegreifer wie der Wolf, der Luchs oder der Bär haben gewöhnlich keine Feinde mehr. Außer den Menschen. In Skandinavien, dessen Bärenpopulation sich so rasant vermehrt wie keine andere auf der Welt, fallen rund 95 Prozent der erwachsenen Bären den Jägern der Gattung Homo sapiens sapiens zum Opfer. Und selbst im US- amerikanischen Yellowstone-Park, dessen Attraktion unter anderem die geschützten Grizzlys sind, stirbt kaum ein erwachsenes Tier eines natürlichen Todes - denn in den Außenzonen des Parks ist die Jagd erlaubt.

Die Abschussquote wird in den USA wie in Europa gemäß dem Zuwachs der jeweiligen Population festgelegt. Während jedoch in Skandinavien jeder Bär geschossen werden darf, legen die US-amerikanischen Parkmanager den Jägern nahe, Männchen zu erlegen. Die Überlegung dahinter ist dieselbe wie in der Nutztierhaltung: Für die Fortpflanzung genügen einige wenige Männchen, während die Zahl der Weibchen das Ausmaß des Zuwachses bestimmt.

Groß und männlich

Nun werden zwar Bärenmännchen bis zu doppelt so groß und schwer wie Weibchen. Doch das dauert seine Zeit. Bis dahin gibt es aber keine augenfälligen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Was wiederum bedeutet, dass nur sehr große Bären mit einiger Sicherheit als männlich identifiziert werden können, wodurch diese zu bevorzugten Jagdobjekten werden.

Viele europäische Bärenforscher wie beispielsweise Hartmut Gossow vom Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft (IWJ) der Universität für Bodenkultur Wien vermuten allerdings, dass das gezielte Entfernen großer alter Männchen sich drastischer auf die Population auswirken könnte, als man bisher meint.

Je größer so ein Bärenmann, desto mehr Weibchen paaren sich mit ihm - mit dem Effekt, dass im Extremfall ein einziger besonders großer Bär der Vater aller in der Nähe lebenden Jungen sein kann. Da sich Bärenmännchen aber in keiner Weise an der Aufzucht der Jungen beteiligen, glaubten die Forscher bislang, dass der Abschuss dieses Übervaters für seinen Nachwuchs keine Bedeutung hat. Dieser Ansicht scheint jedoch aus erstaunlichen Gründen falsch zu sein.

Von Löwen und Primaten ist belegt, dass Männchen, die ein Rudel oder eine Gruppe neu übernehmen, die noch nicht selbstständigen Jungen ihrer Vorgänger töten. Auf diese Weise werden die Mütter rascher wieder paarungsbereit und können dem neuen Herrscher bald eigene Kinder gebären. Lange Zeit waren die Wissenschaftler überzeugt, dass dieser "sexuell selektierte Infantizid" nur bei sozialen Arten auftritt, zu denen der Bär nicht gehört.

Doch Kindstötungen durch Bärenmännchen wurden auch im Rahmen des Skandinavischen Braunbärprojektes beobachtet, bei dem seit rund 25 Jahren die Aktivitäten von vorwiegend schwedischen Bären überwacht werden. Solche Sichtungen sind freilich zu selten, um wissenschaftlich viel Gehör zu finden.

Doch noch ein anderer Umstand gibt den Bärenforschern zu denken: Rund eineinhalb Jahre nach dem Abschuss eines großen Männchens ist bei sonst gleich bleibenden Bedingungen ein deutliches Ansteigen der Jungensterblichkeit zu verzeichnen. Zu dieser Zeit, nehmen die Wissenschafter an, beseitigen die neu eingewanderten Männchen den Nachwuchs ihres Vorgängers.

Andreas Zedrosser vom IWJ, der seit drei Jahren mit finanzieller Unterstützung des FWF am Skandinavischen Braunbärprojekt mitarbeitet, will sich in Zukunft dezidiert mit dem sexuell selektierten Infantizid beschäftigen. Mithilfe von Satellitensendehalsbändern soll das individuelle Verhalten der Tiere mit den genetischen Daten verschnitten werden, die mittlerweile für fast alle schwedischen Bären vorliegen. Oder wie Hartmut Gossow es ausdrückt: "Bisher haben wir nur ,snap-shots' - jetzt machen wir sozusagen Filmaufnahmen."

Was sich auch mittels der "Schnappschüsse" schon gezeigt hat, ist, dass die Weibchen ihrerseits Strategien entwickeln, ihre Kinder vor mörderischen Männchen zu schützen. Wie für den sexuell selektiven Infantizid typisch, töten Bärenmänner nur fremde, nie aber ihre eigenen Jungen. Wie sie diese erkennen, ist noch ungeklärt.

Möglich scheint, dass sie sich erinnern, mit welchen Weibchen sie sich gepaart haben, und deren Junge verschonen. Unter diesen Umständen sollten die Bärenfrauen sich mit mehreren Männchen paaren, um die Vaterschaft zu verschleiern.

Promiskuitive Bären

Tatsächlich sind Bärenfrauen recht promiskuitiv. Dabei bevorzugen sie Partner, deren Streifgebiet in der Nähe ihres eigenen liegt. Auch das könnte eine vorbeugende Maßnahme sein, denn Nachbarn haben die höchste Wahrscheinlichkeit, eine Männchen-Lücke zu füllen und zum Jungen-Killer zu werden.

Wenn das alles nicht hilft, verteidigen Bärenmütter ihre Jungen tätlich gegen die Männchen, allerdings nur, wenn genügend auf dem Spiel steht: Wie Zedrosser und seine Kollegen fanden, starben in solchen Auseinandersetzungen ausschließlich Bärenmütter von Würfen mit zwei bis drei Jungen, nie aber die Mütter von Einzelkindern.

Offenbar riskieren die Weibchen mehr, wenn der Wurf eine höhere Investition darstellt. Dafür spricht auch, dass Bärenweibchen einzelne Junge manchmal verlassen, nie aber größere Würfe. Außerdem fanden die Wissenschafter, dass erstgebärende Bärinnen ihre Jungen eher an Artgenossen verlieren als erfahrenere Weibchen, und zwar desto eher, je jünger sie sind. Offenbar bewirkt jedes zusätzliche Lebens- jahr eine höhere Kompetenz im Umgang mit den Männchen.

Wie die Gruppe um Zedrosser außerdem herausfand, bleiben manche junge Bärinnen in der Nähe ihrer Mutter, die ihnen Platz in ihrem Streifgebiet einräumt. Auf diese Weise können im Lauf der Zeit große Areale von lauter verwandten Weibchen beherrscht werden.

Auffällig ist dabei, dass der erste Wurf dieser Töchter später erfolgt als der ihrer abgewanderten Schwestern. Die Daten legen nahe, dass der Grund für die verzögerte Fortpflanzung die soziale Kontrolle durch die Mutter ist, die die diesbezügliche Konkurrenz der Töchter für eine Weile einschränkt.

Beides - Unterdrückung der Fortpflanzung durch Artgenossen ebenso wie die Errichtung von Gruppenterritorien - ist umso bemerkenswerter, als Bären bisher als reine Einzelgänger ohne jede soziale Tendenz galten. "Da wird sich in der Bärenbiologie noch allerhand umwälzen", meint Zedrosser. Sieht ganz so aus. (Susanne Strnadl/DER STANDARD, Printausgabe, 21. März 2007)