Die Philosophin Rosi Braidotti hält die Nostalgie für das Natürliche für einen "moralischen Defekt und eine fehlende Liebe zur Gegenwart".
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Die Philosophin Rosi Braidotti ist eine der führende Denkerinnen bei Fragen zu Leben und Tod. Im Gespräch mit dem Standard plädiert sie für weniger hysterische Gentechnik- und Euthanasiedebatten und besser regulierte Reproduktionstechnologien.


Wien – "Wir brauchen eine neue Form der Diskussion über Biopolitik." Das ist kurz gefasst die Hauptbotschaft von Rosi Braidotti, die dieser Tage in Wien über "Biomacht und Nekro-Politik" referierte. Wie die renommierte Philosophin bei ihrem Vortrag am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) kritisierte, dominiere in Fragen von Leben und Tod derzeit eine Rückwendung zu vollkommen antiquierten Werten, was an den Herausforderungen der Gegenwart vorbeigehe. Ein typisches Beispiel dafür sei die hysterische Berichterstattung über das niederländische Sterbehilfegesetz. In vielen Ländern werde unterstellt, dass man in den Niederlanden nun alten Personen leichter töten könne. "Das ist natürlich blanker Unsinn", ärgert sich die 51-Jährige, die als "Distinguished Professor in the Humanities" in Utrecht die Situation sehr gut kennt.

Nicht um einen Freibrief zum Töten, sondern um die Entkriminalisierung der Sterbehilfe gehe es beim Gesetz, betont die Feministin im Gespräch mit dem Standard. "Wieso sollen wir nicht nüchtern darüber sprechen, ob es Sinn macht, Geräte abzudrehen, die uns künstlich am Leben erhalten? Oder darüber, ob wir ein Recht auf Selbstmord und damit ein Sterben in Würde haben?" Die NiederländerInnen hätten sich mit den Problemen auseinandergesetzt, während man in vielen katholischen Ländern nach dem unausgesprochenen Motto "Wir tun es, aber reden nicht darüber" agiere.

Diskussion um die Gentechnik als Panikmache

Natürlich sei es immer schmerzhaft, über den Tod zu reden. "Die Fortschritte in der Biotechnologie und der Medizin verändern aber eben auch unser Sterben." Mit hysterischen Schreckensszenarien kämen wir jedenfalls nicht weiter, ist Braidotti überzeugt. Die Diskussion um die Gentechnik, die längst Teil unseres realen Lebens sei, basiere nur auf Angst und Panikmache, zu der im Übrigen auch viele Geistes- und SozialwissenschafterInnen beitragen würden. Natürlich gebe es eine moralische Dimension, aber der sei nicht mit Hysterie beizukommen. Stattdessen müsse man darauf bestehen, dass die biotechnologischen Forschungen transparenter gemacht werden. Denn es sei ein reales Problem, dass ein großer Teil dieser Forschungen nicht an der Universität, sondern in halbprivaten Instituten gemacht werde – und daher schwer zu kontrollieren sei. Eine Paranoia gegenüber der Gentechnologie rechtfertigt das aber nicht.

Nostalgie für das Natürliche als "moralischer Defekt"

Ähnlich schief laufe die Diskussion um die Reproduktionstechnologien, wo von vielen Seiten ein Verlust des "Natürlichen" beklagt würde. "Aber wo bitte ist der Mensch heute noch Natur?", fragt Braidotti polemisch. Als feministische Wissenschafterin stehe sie dem Appell an die menschliche Natur ohnehin skeptisch gegenüber, sei er doch meist eine Ausrede, um Ungleichheiten zu rechtfertigen. Es gebe heute viele neue Möglichkeiten des Kinderkriegens, bis hin zum Einfrieren des Embryos, den sich Frauen zehn Jahre später einsetzen lassen können. Unabhängig davon, ob man das begrüßt, müssten die verschiedenen Möglichkeiten diskutieren, so Braidotti. "Aber Kirche und Politik beschwören munter Regeln des 19. Jahrhunderts und ein Familienmodell, das in dieser Form längst nicht mehr dominant ist. Warum sollten wir nicht mit neuen Familienmodellen experimentieren? Die meisten von uns sind doch nicht Idioten oder Verbrecher, also darf man schon etwa Vertrauen in die Menschen haben." Die Nostalgie für das Natürliche hält Braidotti für nichts Geringeres als einen "moralischen Defekt und eine fehlende Liebe für die Gegenwart". Denn wenn wir die Diskussion verweigern, würde tatsächlich das schlimmstmögliche Szenario eintreten: dass nämlich allein der Markt die Spielregeln festsetzt.

Über den Umgang reden

Wohin das führt – nämlich unter anderem zum blanken Rassismus – würden die Samenbanken in den USA zeigen: "In den Katalogen wird der Samen von Afroamerikanern um 25 Dollar angeboten. Der von Weißen kostet 500 Dollar und der eines Nobelpreisträgers 3000 Dollar." "Wir haben die Möglichkeit zu klonen, wir haben Stammzellen, und wir können Organe reproduzieren. Das sind doch tolle Errungenschaften", resümiert Braidotti. "Wir müssen aber dringend unaufgeregt darüber reden, wie wir damit umgehen wollen." (Sabina Auckenthaler/D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 22.3. 2007)