Fakten kann man nicht verstehen, man kann sie nur zur Kenntnis nehmen. Unsere Abbildung zeigt das Tsunami-Warnschild des U.S. Geological Survey.

Foto: USGS

Auf der einen Seite die Sicherung von Fakten, auf der anderen das, was das Publikum berühren soll – persönliche Erlebnisse, Augenzeugenberichte, Details menschlicher Schicksale. Letzteres gleicht in seiner Flüchtigkeit (denn für mehr als ein paar Sätze ist kaum Raum) einer Nachstellung der Katastrophe. Das Subjekt verkommt zum Stichwortgeber. Der berichtende Charakter bleibt den Moderatoren aus dem Off vorenthalten, den Redakteuren bei den Zeitungen. Das ist sehr beruhigend. Es verortet die Katastrophe. Schon bald hat man den Eindruck, dass man alles weiß, alles im Griff hat – und man geht zum Tagesgeschäft über. Überdruss an weiteren Meldungen und Berichten macht sich breit. Wer sich noch immer betroffen fühlt, kann ja etwas spenden.

Josef Haslingers Phi Phi Island. Ein Bericht zeigt, dass diese Form der medialen Berichterstattung nicht nur der Katastrophe unangemessen ist, sondern dass man darüber hinaus eigentlich nichts weiß, dass nicht von der Inszenierung geblieben ist, außer vielleicht ein paar Fakten. Aber Fakten kann man nicht verstehen, man kann sie nur zur Kenntnis nehmen. Für viele war es ein Schock, als sie 2004 die Bilder der Zerstörungen sahen, die der Tsunami angerichtet hatte. Eine unmittelbare Berührung, die nicht über den Intellekt erfolgte, die nur aus den Bildern kam. Was ist von dieser Berührung geblieben? Nichts. Andere Meldungen folgten, andere Schreckensbilder aus allen Teilen der Welt.

Literatur kann diese Berührung bewahren. Und mehr: Sie kann ein Verständnis des Vorgefallenen fördern, Einsichten gewähren, mit denen man nicht gerechnet hat. Das zu Berichtende endet nicht im Faktischen. Es wird deutlich, dass eine Katastrophe auch Auswirkungen hat, und sei es nur am Einzelnen, die weit über das sichtbare Ausmaß der Zerstörung hinausgehen.

Doch sind das schon Auswirkungen der Lektüre von Haslingers Buch. Der Inhalt, das Faktische, ist rasch erzählt: Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger bucht für sich und seine Familie für Weihnachten 2004 einen Aufenthalt auf der thailändischen Insel Phi Phi Island. Am 26. Dezember ereignet sich der verheerende Tsunami, wie durch ein Wunder überleben alle Familienmitglieder die Katastrophe und kehren nach Wien zurück. Haslinger hat sich an einer Hand mehrere Sehnen durchschnitten, der Rest der Familie, seine Frau und zwei schon fast erwachsene Kinder, sind bis auf leichte Schnittwunden unverletzt. Haslinger will, so schnell es geht, zurück in sein "normales" Leben. Das gelingt, solange er nicht schreibt. Die Blockade bricht erst auf, als er es doch tut. Er entschließt sich, dem Vorgefallenen zu begegnen, zu recherchieren und ein Buch zu schreiben und zu diesem Zweck ein zweites Mal nach Phi Phi Island zu fahren.

Viele reagierten skeptisch, als sie erfuhren, dass Josef Haslinger ein Buch über den Tsunami geschrieben hat. Skeptisch, weil man befürchtete, es sei reine Spekulation – und Haslinger hat sich dafür, siehe Opernball, bisher nicht unempfänglich gezeigt. Und wenn dann schon auf den ersten Seiten des Buches zu lesen ist, dass er diesen Text gar nicht habe schreiben wollen und sich ein paar Zeilen weiter gar mit Kara Ben Nemsi vergleicht, dann scheinen die schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Aber diese Sätze an den Anfang des Buches zu stellen war eher ungeschickt als unaufrichtig. Hier will wirklich jemand etwas wissen. Und alles ist anders: Die Genauigkeit der Beschreibung ist kein bloßes Vor-sich-hin-Literarisieren mehr, ja es fehlt jedes literarisches Getue. Die Sprache ist exakt, der Autor sprachmächtig im besten Sinn. Es ist ein völlig offenes Buch, an dem man auch den Unterschied zwischen literarischem Kalkül und gutem Handwerk erkennen kann. Dieses Buch ist vor allem deshalb eine Sensation, weil es das ist, was es ist: ein Bericht – ernsthaft und genau. Und weil in diesem Buch nie (so zumindest der Eindruck) mit doppeltem Boden gearbeitet wird. Keiner, der in diesem Buch vorkommt, wird zu einem bloßen Stichwortgeber herabgewürdigt. Es sind Menschen. Es gibt auch ein Davor und Danach für alle und alles, die von der Flut betroffen waren, denen wir in dem Buch begegnen; Gebäude, Häuser, Hotels, ganze Landstriche, in denen die Flut ihre Spuren hinterlassen hat, Menschen wie eine namenlose thailändische Masseuse, ein Lokalbesitzer oder eben die Familie Haslinger, die auf ganz unterschiedliche Weise mit den Folgen der Katastrophe umgeht. Der Autor lässt sie alle zu Wort kommen. Und auch sein Aufenthalt in Wien, im Krankenhaus, und die Zusendung seiner Wertgegenstände aus dem Tresor gehören zu diesem Bericht wie auch die Schilderung dessen, was während der Flut passierte, wo sich jeder Einzelne genau befand und wie er das Unglück überlebte.

Dieses Buch so geschrieben zu haben, ist eine Leistung, die gar nicht hoch genug einzuschätzen ist, denn es gibt auch ein wenig das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Autoren zurück, die sich in den vergangenen Jahren allzu oft im Gemenge des Literaturbetriebes und allzu offensichtlichen Parteiungen verloren haben. (Alfred Goubran / ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.03.2007)

Josef Haslinger, "Phi Phi Island. Ein Bericht". € 18,40/208 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007.