Emotionsgeladene Konfrontationen am Familienesstisch: Vater (Kad Merad) und Tochter (Mélanie Laurent) in Philippe Liorets hintergründigem Familienmelodram "Keine Sorge, mir geht's gut".

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... und dabei ihre kleinbürgerliche Herkunft in Frage stellt. "Je vais bien, ne t'en fais pas" wurde in Frankreich zum Überraschungserfolg.

Wien – Die Ahnung, dass in dieser Familie nichts mehr so ist, wie es einmal war, beschleicht einen schnell. Lili (Mélanie Laurent) kommt aus den Ferien zurück nach Hause. Noch am Bahnhof erkundigt sie sich nach dem Verbleib ihres Zwillingsbruders Loic, aber die Antworten der Eltern fallen ausweichend aus. Es habe einen Streit gegeben, Loic sei abgehauen, wohin genau, wisse man nicht. Weniger der Umstand des Konflikts erstaunt dabei, als der Unwille der Eltern, sich mit dieser Angelegenheit näher auseinander zu setzen.

"Keine Sorge, mir geht's gut" ("Je vais bien, ne t'en fais pas"), der neue Film des Franzosen Philippe Lioret ("Die Frau des Leuchtturmwärters"), entwickelt sein Drama aus diesem Mangel heraus. Eine ganz gewöhnliche Mittelschichtfamilie, wohnhaft in einer dieser verwechselbaren Vorortsiedlungen, wie sie nicht nur um Paris zu finden sind, gerät in eine Schieflage, weil ein Ereignis nicht aufgearbeitet wird. Die besonderen Bedingungen des Verhältnisses zwischen Lili und ihrem Bruder erschweren die Situation: Als Zwillinge hegen sie eine besonders innige Zuneigung zueinander. Umso vehementer sind die Turbulenzen, die Loics Abwesenheit nun verursacht. Aus der ersten Verunsicherung wird eine Blockade, Lili wirft ihr Studium hin und landet schließlich sogar kurzzeitig in der Psychiatrie.

Gebündelte Energie

Lioret hat den erzählerischen Kern seines Films einem Roman Olivier Adams entnommen: "Es ist alles in dieser Geschichte vorhanden", meint der Regisseur im STANDARD-Interview, "ein Porträt der Mittelklasse, das Drama eines Vaters, der zu sich zurückfindet, und die Elemente eines Familienthrillers – drei Energien, die zusammenkommen. Es ist der erste Film, den ich einem Buch entnehme – und dennoch ist es mein persönlichster. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum. Vielleicht, weil ich selbst aus kleinbürgerlichen Verhältnissen komme und mich in der Beziehung des Vaters zu seinen Kindern wiedergefunden habe."

Das gilt offenbar nicht für Lioret allein, hat sich der Film in Frankreich doch zum Überraschungserfolg mit mehr als einer Million Besucher entwickelt. Mit seinem hintergründigen Blick auf familiäre Dynamiken ist "Keine Sorge, mir geht's gut" näher an den kulinarischen Dramen Claude Sautets als an den bürgerlichen Zerfallsstudien Claude Chabrols – und verkörpert ein Qualitätskino, das sein Zugeständnis an ein breiteres Publikum nicht über Ungenauigkeiten in der Ausmalung von Beziehungen macht.

Lioret hält den Suspense über den Aufenthalt des Bruders aufrecht – allein Briefe geben Lili neuen Mut –, verlässt sich aber nicht allein auf dramaturgische Kniffe. Erst die Hinwendung zum sozialen Gefälle der Familie, zum Ausleben von lange aufgestauten Emotionen auf engem Raum, verleiht dem Film seine Stärke. Lioret: "Ich wollte Menschen zeigen, die zusammen leben und sich durchaus lieben, aber ohne sich das zu sagen oder zu zeigen. Und ich suchte nach Figuren, die nicht außerhalb der wirtschaftlichen Welt leben. Lili ist etwa eine junge Frau, die ihr Studium sein lässt und einen Job als Kassierin annimmt."

Mit Mélanie Laurent als Lili ist Lioret tatsächlich ein besonderer Coup gelungen. Die 24-jährige Schauspielerin, die bisher nur in kleineren Rollen zu sehen war, ist in beinahe jeder Einstellung präsent – auf ihrem Gesicht manifestiert sich dementsprechend das eigentliche Drama des Films: jenes einer jungen Frau, die aus den engstirnigen Verhältnissen ausbrechen will, indem sie sich dem Erfolgsdruck ihres Vaters verweigert und ein Band zu ihrem rebellischen Bruder wahrt.

"Ich wollte eine körperliche Hülle für Lili finden", sagt Lioret über seine Darstellerin, die zurecht mit einem César ausgezeichnet wurde, "sie sollte hübsch sein, aber auch ein wenig banal, keinesfalls ein Starlet. Sie sollte authentisch sprechen, wichtig war mir auch, dass sie über diese gewisse Energie der Verzweiflung verfügt. All das habe ich in Mélanie gefunden: Sie hat Lili zum Leben erweckt."

Der Eigensinn Lilis ist es denn auch, der Keine Sorge, mir geht's gut über die Milieustudie hinaushebt: Die Unruhe, die sie ergreift, wenn sie die geordneten Bahnen ihres Lebens vor sich sieht, macht sie zur Außenseiterin unter ihren Altersgenossen. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.4.2007)