Christoph Lieben-Seutter: "Das Interesse an anderen Kulturen ist ein Zeichen unserer Zeit."

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STANDARD: Welche Überlegungen standen dahinter, im Konzerthaus 2002 mit der Veranstaltung ethnisch inspirierter Musik zu beginnen?

Lieben-Seutter: Zum einen steht das Wiener Konzerthaus seit Beginn nicht nur für die Klassik, sondern für die Musik des 20. Jahrhunderts. Hier sind alle aufgetreten, von Louis Armstrong über Maurice Chevalier bis zu Jimi Hendrix. Bis zum Bau der Stadthalle war das der einzige Saal für diese Musik, erst seit 15 Jahren gibt es andere Locations für 2000, 3000 Menschen.

Zum anderen haben wir seit gut zehn Jahren eine sehr erfolgreich Jazz-Serie und wollten uns weiter in die Nichtklassik ausdehnen. "Exotische" Konzerte hat es vereinzelt immer schon gegeben, ich erinnere mich an Baden Powell vor 20 Jahren, das waren aber private Veranstalter. Hier haben wir auch eine Marktnische gesehen: Für große Projekte, etwa brasilianische oder afrikanische Superstars wie Salif Keita oder Marisa Monte, gab es in Wien keine regelmäßige Plattform, außer dem Jazzfest im Sommer.

STANDARD: Wie könnte man beschreiben, was sich hinter dieser vorsichtig "World – Musik der Welt" benannten Serie verbirgt? Auch im Unterschied zum "Musikanten"-Zyklus?

Lieben-Seutter: Die so genannte "Weltmusik" ist natürlich der Albtraum jedes Musikfachmanns, aber ein Vergnügen für einen Veranstalter: Das ist eine riesige Kiste, in die man im Prinzip alles hineingeben kann, was nicht europäische Klassik und westliche Pop- oder Jazzmusik ist. Das Schöne ist, dass das Label offenbar gut funktioniert: Wir merken, dass die Leute Karten kaufen, weil etwas in dieser Serie stattfindet. Wir sind seit fünf Jahren praktisch ausverkauft. Der "Musikanten"-Zyklus war eine Art Vorläufer, den gibt es seit beinahe zehn Jahren. Hier gibt’s ein recht striktes Konzept: Österreichische Volksmusik, gegenübergestellt einer verwandten Gruppe aus Europa. Da ging’s mir darum, das nicht mit "Exotik" zu überladen.

STANDARD: Welche Publikumsbedürfnisse sehen Sie? Ist es die Suche nach vermeintlicher "Authentizität" im Kontext einer unübersichtlicher, beliebiger werdenden Welt? Sind es auch sozio-ästhetische Entwicklungen? Man sagt ja, dass das neue "kulturelle Kapital" das des grenzüberschreitenden Geschmacks ist ...

Lieben-Seutter: Die Suche nach Authentizität ist es natürlich nur sehr vermeintlich – die bieten wir auch gar nicht. Wir bieten die wunderbarsten Mischungen. Wenn wir eine Band aus Mali bringen, dann ist diese nicht denkbar ohne kubanischen Background. Ganz selten haben wir wirklich "Authentisches", etwa die Master Musicians of Jajouka – wobei auch die bereits jahrzehntelang in der westlichen Pop-Welt präsent ist. Die spielen ihre Musik, aber sie haben sich gewöhnt an das westliche Konzertformat.

Zu den Bedürfnissen des Publikums: Das Interesse an anderen Kulturen ist dank Globalisierung und Internet generell ein Zeichen unserer Zeit. Es hat sicher viel zu tun mit "Urlaubsgefühlen". Deswegen funktioniert südamerikanische Musik extrem gut, alles, was ein "warmes" Feeling vermittelt. Generell ist ein Bedarf an anspruchsvoller Musik zu beobachten, die keine Klassik – manchen zu kompliziert – und kein Jazz – vermeintlich zu langweilig – und kein Ö3-Kommerz ist. Ich würde als Veranstalter gerade jetzt im Pop ankommen. Der hat wie der Jazz nichts Subkulturelles mehr an sich, sondern ist längst gesellschaftsfähig. Ich habe mit Lambchop und Nick Cave angefangen, und es war der Plan, eine gehobene Pop-Serie für 30- bis 40-Jährige zu machen. Ich bin leider jetzt am Gehen, und ob das mein Nachfolger in dieser Form macht, kann ich nicht sagen.

STANDARD: Ethnisch inspirierte Musik stellt auch besondere Herausforderungen in der Vermittlung, etwa in Bezug auf die Verständlichkeit der Texte. Es gibt Lösungsansätze: Gianmaria Testa reist immer mit Übersetzer, andere Veranstalter drucken die Liedtexte im Programmheft ab. Wie möchte das Konzerthaus diesen Hürden begegnen?

Lieben-Seutter: Wenn man systematisch Programmhefte mit Texten macht, braucht man die Kooperation der Künstler – die es nur teilweise gibt. Manchen ist das völlig egal, viele wollen auch flexibel in der Programmgestaltung sein, das ist zu akzeptieren.

Zudem: Es stimmt zwar, dass Salif Keita ohne Texte nur die halbe Miete ist, andererseits befürchte ich, dass 90 Prozent der Leute auch englischsprachigen Pop konsumieren, ohne zu verstehen, was gesungen wird. Zu viel Vermittlung hemmt mitunter auch die Spontaneität – wenn ein Konzert Volkshochschulcharakter bekommt, zerstört man auch etwas. Es ist also eine Gratwanderung.

STANDARD: Sie wechseln im Herbst nach Hamburg – wie weit wird das, was Sie in Wien an Erfahrungen auch in nicht klassischer Musik gemacht haben, dort Berücksichtigung finden?

Lieben-Seutter: Das Wiener Konzerthaus war, noch bevor man an mich als Intendant herangetreten ist, ein Vorbild für die Entwicklung der Elbphilharmonie. Das hat mich gefreut, und dadurch ist der Anspruch dort auch ähnlich: Es wird dort erwartet, dass bis zu 30 Prozent Nichtklassik angeboten wird. Trotzdem kann ich das Konzerthaus nicht einfach nach Hamburg tragen, da muss ich erst hin und alles beschnuppern. Ich würde gerne in der Nichtklassik mehr dramaturgisch, themenbezogen arbeiten. Wir leben im Konzerthaus von der Hand in den Mund. Nicht dass ich in Hamburg so viel mehr Geld habe, aber ich hoffe, dass das Projekt Sponsoren anzieht, damit wir mehr aus dem Vollen schöpfen können als hier. (Andreas Felber / DER STANDARD, Printausgabe, 13.04.2007)