Den Ärmsten nahe kommen: "Das Block" von Stefan Kolbe und Chris Wright.

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Die Bedeutung des US-Dokumentaristen Michael Moore für das neue Interesse am Dokumentarfilm ist unumstritten. Seit Bowling for Columbine und Fahrenheit 9/11 die Kinocharts gestürmt haben, ist das Genre des "Realen" keine Special-Interest-Nische mehr. Ebenso unumstritten ist allerdings, dass Moores Methoden nicht allen ethischen Standards genügen: Für die nachhaltigere Botschaft wurden bestimmte Bilder der Realität in fiktionale Zusammenhänge zurückgebracht.

Die kanadische Filmemacherin Debbie Melnick wollte der Sache in Manufacturing Dissent: Uncovering Michael Moore genauer auf den Grund gehen. Anfangs noch als begeisterter Fan, recherchierte sie die Hintergründe von Moores steiler Karriere und musste erkennen, dass er weniger rechtschaffen denn egomanisch an seinem Aufstieg zur Galionsfigur der disparaten US-Linken arbeitete.

Das hört sich so reißerisch an, wie es aussieht: Melnick sammelt Indizien gegen Moore – wovon einige, etwa seine Janusköpfigkeit bezüglich politischer Parteinahmen, gewiss nicht unberechtigt sind. Allerdings scheitert die Anklägerin daran, eine stringente argumentative Form zu gewinnen. Anstatt sich auf eine Analyse seiner Arbeitsweise einzulassen, stellt sie ihre Versuche zur Schau, an ein Interview mit Moore zu kommen. Sie scheitert – und unterstellt ihm, etwas verheimlichen zu wollen. Das ist etwas simpel.

Leben und Arbeit

Auf dem Filmfestival Visions du réel im Schweizer Nyon, das am Donnerstag zu Ende ging, wurde Melnicks Arbeit mit wenig Skepsis aufgenommen. Erstaunlich, wo man sich hier besonders intensiv mit dokumentarischen Formaten beschäftigt. Wie produktiv man sich existenziellen Ausnahmesituationen annähern kann, zeigten indes zwei Arbeiten, die sich mit prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen in Ostdeutschland auseinandersetzen, Kehraus, wieder und Das Block.

Kehraus, wieder ist der dritte Teil einer Langzeitbeobachtung von Gerd Kroske, die er 1990, unmittelbar nach der Wende, mit Kehraus begonnen hat. Zusammen ergeben sie eine Geschichte der wachsenden Verarmung nach der Wiedervereinigung:

Die Protagonisten – im ersten Teil noch Straßenkehrer in Leipzig – sind mittlerweile seit Jahren arbeitslos, einige alkoholkrank, zwei davon bereits verstorben, beerdigt in Armengräbern. Man merkt dem Film an, dass Kroske seine Figuren schon lange kennt – sie nehmen seine Aufmerksamkeit an, was keine Selbstverständlichkeit ist, und berichten von ihrem Dasein, das sich aufgrund finanzieller Knappheit auf wenige, alltäglich wiederholte Abläufe eingependelt hat. Immer noch suchen sie Arbeit, obwohl sie die Hoffnung, welche zu finden, insgeheim schon aufgegeben haben. Jeder kämpft für sich allein, der soziale Zusammenhalt – ob von Freunden oder Familien – ist brüchig geworden: Der viel debattierte Begriff des Prekariats wird hier auf äußerst unmittelbare und alarmierende Weise anschaulich.

Gegensätzlich dazu ist Das Block von Stefan Kolbe und Chris Wright gebaut: Die Filmemacher porträtieren vier Bewohner eines Plattenbaus in Gräfenheinichen, blenden aber den sozialen Hintergrund von Figuren und Umgebung weit gehend aus. Die Kamera macht es vor: Das Block sucht nach Einsichten über die Einstellungsgröße der Großaufnahme. Er rückt den Menschen nahe: einem älteren Mann, der von einem Fremden anonyme Anrufe erhält; einem jungen Burschen, der die verheerende Geschichte seiner Kindheit preisgibt; einer Frau, die als Deutsche aus Russland flüchten musste und sich nun dorthin zurücksehnt.

Noch weiter in die Subjektivität reichen die Miniaturen des wunderbaren Alain Cavalier, der in Lieux saints 33 Minuten auf Toiletten verbringt: von Bars, Restaurants, aber auch Orten seiner Kindheit. Lauter stille Orte, die er mit geflüsterten Geständnissen und Erinnerungen füllt. Damit das auch einmal gesagt wird: Dieser Mann braucht hierzulande eine Retrospektive! (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Printausgabe, 27.04.2007)