Der rasante Wandel der Gesellschaft stellt zunehmend auch die Welt der Werbung auf den Kopf. Kinder, die zwei Väter haben, 60-Jährige, die auf Rollerblades durch die Straßen flitzen, Frauen, die mit ihrem Gehalt eine ganze Familie ernähren - klassische Rollenbilder lösen sich auf. Anzeigen, Claims und Spots sind immer schwieriger zu platzieren. "Der Trend ist heute, dass es keinen Trend mehr gibt", sagt Volker Nickel vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW). Die Atomisierung der Gesellschaft, also der Zerfall in immer kleinere Interessengruppen, ist aber nur eine von mindestens drei großen Herausforderungen, vor denen die WerberInnen derzeit und in den nächsten Jahren stehen. Kunst der Reduktion Eine weitere ist die rasante Veränderung der Kommunikation und der Medienlandschaft. "Die Informationsflut hat irre zugenommen, es wird immer schwerer, mit seiner Werbung überhaupt noch durchzudringen", sagt Stefan Zschaler, Geschäftsführer der Hamburger Niederlassung der britischen Agentur Leagas Delaney. "Was heute zählt, ist vor allem die Kunst der Reduktion - die Zuspitzung der Botschaft auf eine zentrale Aussage." Diese gilt es dann multimedial zu vernetzen - Fernsehen, Print, Hörfunk, Internet. "Die Medienszene in Deutschland hat sich extrem verändert", sagt auch Lothar Leonhard, Präsident vom Gesamtverband der Werbeagenturen (GWA). Habe man 1980 mit sechs Werbespots noch 90 Prozent der erwachsenen Bevölkerung erreicht, würden heute damit nur noch 30 Prozent angesprochen. "Das Internet ist die Basis, die die Kommunikation technisch revolutionieren wird." Internet-Anzeigen machen den Werbekuchen laut ZAW aber nicht kleiner. Im Gegenteil: Sie kommen noch hinzu. Allein in diesem Jahr fließen in Deutschland schätzungsweise 472 Millionen Mark (3,32 Mrd. S) in Online-Werbung, 2004 voraussichtlich schon 2,2 Milliarden, so eine Studie des Schweizer Marktforschungsinstituts Prognos. Insgesamt könnten alle Medien demnach dieses Jahr mit 46 Milliarden Mark Werbeeinnahmen rechnen - sieben Prozent mehr als 1999 und so viel wie nie zuvor. Authentizität, Natürlichkeit, Normalität Auch inhaltlich müssen die WerberInnen sich auf neue gesellschaftliche Gegebenheiten einstellen: Authentizität, Natürlichkeit und Normalität sind heute angesagt. ZAW-Sprecher Nickel: "Das ist eigentlich fürchterlich langweilig und doch - wie auch Big Brother gezeigt hat - unglaublich faszinierend." Vorbei die Zeit der schillernden Kunstwelten, in der nur die Schöne und der Reiche etwas galt. Auch der extreme Jugendkult nähere sich seinem Ende. Der Grund: Die Deutschen werden immer älter. Schon jetzt ist jeder fünfte über 60; im Jahr 2030 wird es bereits jeder dritte sein. Altersgrenzen verschwimmen Allerdings hat die medizinische und technische Entwicklung dazu beigetragen, dass die Zugehörigkeit zu einer Einkommens- und Altersgruppe für die Werbung zunehmend bedeutungsloser wird. "Ob jung, mittel oder alt, spielt heute nicht mehr die wesentliche Rolle", sagt Nickel. Da gebe er zum Beispiel die jungen, hippen Alten, die sich in keine Schublade pressen lassen, und im Internet sehe man sowieso nicht, ob jemand 20 oder 40, männlich oder weiblich sei. Diese "Demokratisierung" der Gesellschaft habe auch zu einer revolutionären Veränderung in der Warenwelt geführt. Nickel: "Früher galt BMW beispielsweise als Hersteller von Nobelkarossen. Heute füllt das Angebot die volle Preisbandbreite aus, das hat es früher nicht gegeben." Man spreche daher oft nicht mehr von Zielgruppen im klassischen Sinne, sondern von "Lebensstilgruppen" wie den Umwelt- und Gesundheitsbewussten oder den Hedonisten. Dennoch macht der demographische Wandel, die "Vergreisung" der Gesellschaft, der Branche Sorgen. Für den Fall, dass die Deutschen wirklich immer weniger werden, haben kluge WerberInnen vorgesorgt. Sie fordern nach der Maxime "Kinder und Inder" eine Einwanderungspolitik und basteln an multikulturellen Werbekonzepten. Schon heute sind internationale Models keine Seltenheit. (dpa)