Redet gegen das "politische Nirwana" in Einwanderungsfragen an, das die Zukunftschancen des Landes gefährde: Grünen-Bundessprecher Alexander Van der Bellen.

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Ein Einwanderungsstopp wäre gefährlich, meint Grünen-Chef Alexander Van der Bellen: Um wirtschaftliche Einbußen zu vermeiden, brauche es eine stete Zuwanderung von rund 30.000 Menschen pro Jahr bis 2030. Der Fremdenpolitik gibt Van der Bellen im Gespräch mit Irene Brickner die Note "Vier minus".

STANDARD: Wie geht es der Grünen-Bleiberechtspetition?

Van der Bellen: Am Dienstag lagen wir bei knapp 5000 Unterschriften.

STANDARD: Ist das ein Erfolg?

Van der Bellen: Ja, die Unterzeichner sind alle hoch engagierte Leute.

STANDARD: Wie schaut es bei den anderen Parlamentsparteien aus – haben Sie von dort Interesse am Bleiberecht vernommen?

Van der Bellen: Nein, aber noch bin ich optimistisch – wenn ich auch zugebe, dass die jüngsten Äußerungen aus der ÖVP, von Innenminister Platter, Generalsekretär Missethon und Vizekanzler Molterer mich eher skeptisch stimmen. Wenn die VP weiter die Politik der FP verfolgt, sehe ich buchstäblich schwarz. Aber noch hoffe ich auf Interesse aus dem VP-Wirtschaftsflügel.

STANDARD: Und in der SPÖ?

Van der Bellen: Die entsendet widersprüchliche Signale. Nationalratspräsidentin Prammer und Justizministerin Berger haben sich positiv geäußert, die Salzburger Landeshauptfrau Burgstaller hat hingegen für Verschärfungen beim Asylrecht plädiert. Es besteht also noch Hoffnung.

STANDARD: Herr Van der Bellen, wenn Sie der österreichischen Ausländerpolitik heute eine Note zwischen Eins und Fünf geben müssten, wie sähe die aus?

Van der Bellen: Vier minus, höchstens – und ich weiß nicht, ob Österreich noch vor dem Durchfallen gerettet werden kann.

STANDARD: Steht das Land vor einer Nachprüfung?

Van der Bellen: Durchaus. In Österreich herrscht Angst vor den Fremden, absurderweise sogar vor Menschen, die hier aufgewachsen sind, aber nicht eingebürgert wurden – wie die Schülerin Ana Marija Cvitic. Diese Fremdenpolitik wird uns ökonomisch auf den Kopf fallen – in zehn, 20 Jahren, wenn wir qualifizierte Zuwanderer dringend brauchen. Dann wird sich Österreich den Ruf erworben haben, eine Hochburg von Le Pen zu sein. STANDARD: Mit welchen Folgen?

Van der Bellen: Etwa mit einem Fehlen gewisser Arbeitskräfte, so wie sich das jetzt schon bei den Industriefacharbeitern oder auch bei den Pflegerinnen abzeichnet. Derzeit herrscht leider kein Bewusstsein darüber, dass die Bevölkerungszahl bereits in den vergangenen zwanzig Jahren ohne Nettozuwanderung zurückgegangen wäre und welche negativen Folgen das für das Wirtschaftswachstum gehabt hätte – und in Zukunft haben würde.

STANDARD: Was also tun?

Van der Bellen: Pragmatisch betrachtet, könnte man etwa bei den Übergangsfristen für Arbeitskräfte aus den neuen EU-Staaten ansetzen. Macht es Sinn, wenn diese Fristen 2011 abrupt enden – oder sollte man das nicht besser vorbereiten, indem man den Arbeitsmarkt schrittweise öffnet?

STANDARD: Wie viel Zuwanderung braucht Österreich im nächsten Vierteljahrhundert?

Van der Bellen: Rund 30.000 Zuwanderer jährlich – wenn sich bis 2015 demografisch nicht wahnsinnig viel tut. Schon in den letzten zehn Jahren sind 40.000 Menschen pro Jahr zugewandert, bei sehr hoher Fluktuation. Bis zu 120.000 Menschen sind jährlich gekommen, 80.000 wieder gegangen, das macht sich kaum jemand bewusst.

STANDARD: Die sinkenden Niederlassungszahlen, die ÖVP und FPÖ feiern, sind also nicht die ganze Wahrheit?

Van der Bellen: Nein, hier wurde eher der Schwarzmarkt ausgeweitet. In Österreich herrscht in Einwanderungsfragen ein politisches Nirwana. Dafür haben wir – und das finde ich besonders arg – etwa für Forscher Regelungen, die abschrecken. Wenn ich ein hoch qualifizierter Inder bin, würde ich mich für die USA entscheiden statt für Österreich, wo ich 15 Jahre warten muss, bevor ich eine Chance auf Staatsbürgerschaft habe.

STANDARD: Wie kommt es zu solchen kontraproduktiven Regelungen?

Van der Bellen: Es wird extrem kurzsichtig vorgegangen – und wenn man dann draufkommt, ist es zu spät. Aber wir sollten uns keinen Illusionen hingeben: Die Konkurrenz um qualifizierte Einwanderer wird in den kommenden Jahrzehnten international und heftig sein.

STANDARD: Mir fällt an dieser Stelle Afzaal Deewan ein, der ein vom Wirtschaftsminister prämiertes Beisl führt, aber von Ausweisung bedroht ist.

Van der Bellen: Welchen Sinn macht es, einen erfolgreichen Beislwirten in Schubhaft nehmen zu wollen?

STANDARD: Er hat keinen Aufenthaltstitel, also gefährdet er die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Van der Bellen: Das ist doch grober Unfug! Da existieren ganze Familien – Väter, Mütter, Kinder – die hier schon integriert, aber von Abschiebung bedroht sind. Das ist humanitär eine Katastrophe.

STANDARD: Oft wird mit den Schwierigkeiten der Integration argumentiert.

Van der Bellen: Wenn pro Jahr ein Fünftel der Schulabgänger nicht imstande ist, sinnverstehend zu lesen, ist das wirtschaftspolitisch ein Wahnsinn. Das sind jährlich rund 18.000 Menschen, und das sind nicht nur Ausländerkinder. In Deutschland werden jährlich rund 200 Millionen Euro von öffentlicher Seite für Sprachprogramme ausgegeben. Übertragen auf Österreich wären das 20 Millionen Euro – doch es sind nur 400.000. Das soll ein stichhaltiges Integrationsprogramm sein?

STANDARD: Sie reden viel von Qualifikationen, die Einwanderer mitbringen. Was aber tun mit den vielen unqualifizierten Menschen, die mit allen Mitteln in die EU wollen – einfach um dem Elend zu entkommen?

Van der Bellen: Da muss Europa mehr investieren, an Ort und Stelle, im eigenen Interesse. Ich glaube aber auch, dass die große und reiche EU mit ihren 480 Millionen Einwohnern imstande sein sollte, einige dieser Menschen aufzunehmen. (DER STANDARD Printausgabe, 9.5.2007)