Regisseur Michael Moore vertieft sich wieder in die Widersprüche des US-Systems.

Ein enervierter Cineast, der durch ein leeres Kino irrt und den Vorführer sucht, damit er den Film scharf stellt. Lachende Menschen in einem Open-Air-Kino in Marokko. Eine blinde Frau, weinend in Jean Luc Godards Le Mepris (Die Verachtung). Eine andere weinende Frau, die von einem Mann bestohlen werden soll und die Hand, die er schon in ihrer Tasche hatte, an die Wange führt: das ganze Kino.

Und jedem sein Kino: Chacun son cinema, ein Episodenfilm, zum 60. Geburtstag der Festspiele in Cannes erstellt von 30 Regisseuren wie Nanni Moretti, Raymond Depardon, Alejandro Gonzáles Iñárritu den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne, macht etwas sehr Schönes, Richtiges: Hier wird nicht nostalgisch über Filmgeschichte schwadroniert, sondern das Kino als schäbige, alltägliche Abspielstätte porträtiert. Nie länger als drei Minuten, aber in aller Liebe und Sorgfalt.

Nanni Moretti etwa präsentiert Erinnerungen aus dem Tagebuch eines Kinogehers. Mit seinem siebenjährigen Sohn habe er den Trailer von Matrix 2 gesehen. Der Sohn habe gesagt: "Den schauen wir uns an, oder?" Und er, Moretti, habe den Zeitpunkt für geeignet erachtet, um dem Kind zu gestehen: "Ich mache aber etwas andere Filme." Der Sohn lapidar: "Matrix 2 schauen wir uns trotzdem an, oder?"

Klar, weil im Kino das "trotzdem!" eine schöne Rolle spielt. Am Samstag sah man hier zum Beispiel den jüngsten Film eines mittlerweile sehr berühmten und umstrittenen Amerikaners, der sich wieder einmal über George W. Bush lustig machte und seine Kritik an der US-Gesellschaftspolitik teilweise holzhammermäßig formulierte. Trotzdem: Entgegen allen Erwartungen ist Sicko, die neue Doku-Satire von Michael Moore, ein über alle Maßen erfreuliches Werk.

Wie in Moores besten Filmen Roger and Me und Bowling for Columbine geht es auch in Sicko zuallererst darum, wie es ist, berechtigte Fragen zu stellen und darauf ziemlich konsequent keine befriedigenden Antworten zu erhalten. Nachhaken will Michael Moore diesmal im korrupten, ausbeuterischen, die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft negierenden US-Krankenversicherungssystem. Er stellt, aus europäischer Sicht mitunter durchaus naiv anmutend, die Frage, warum in Kanada, England, Frankreich, ja sogar in Kuba Krankenpflege gratis ist, während in den USA Familien daran zerbrechen, dass die Großeltern krank oder "zu alt" werden. Und seine bärbeißige Verzweiflung, sie kulminiert in einer sehr typischen aktionistischen Posse:

Mit kranken Feuerwehrleuten, die wegen der Aufräumarbeiten nach 9/11 einst als Helden gefeiert wurden, heute aber auch keine Unterstützung erhalten, fährt Moore nach Guantánamo, "weil immerhin dort staatlich subventioniert Leute verarztet werden". Na gut, ganz bis in den Krankentrakt des Terror-Hochsicherheitsgefängnisses schafft er es nicht. Immerhin werden die hinfälligen Amerikaner aber dann in einem Krankenhaus in Kuba von den vermeintlichen kommunistischen Volksfeinden aufopfernd gepflegt. Wenn Moore hier einmal mehr Feindbildern seine eigenen Schablonen gegenübersetzt, dann mag man das mitunter plump finden. Anders als bei Fahrenheit 9/11 verzettelt er sich aber nicht in politischen Verschwörungstheorien, sondern tut volksbildnerisch etwas durchaus Taugliches: Er setzt sich in Bewegung, stellt seine Fragen und bildet eine allgemeine Ratlosigkeit ab.

Wenn es zum Beispiel in Österreich einen Filmemacher gäbe, der mit ähnlichen Methoden eine Dokumentation über die Bildungsdebatte und das Schulsystem zustande brächte: Zumindest auf einer diskursiven Ebene wäre dies ein besseres Land.

"Trotzdem!" - etwas enttäuschend die Filmpremiere der Brüder Joel und Ethan Coen. Der Titel No Country for Old Men ist nämlich schön, und außerdem ist er vom Schriftsteller Cormac McCarthy, dessen gleichnamiger Roman adaptiert wurde. Stolpernde Endzeit-Cowboys (Tommy Lee Jones!), komische Serienmörder und ein texanischer Slang wie zehn Packungen Kaugummi: Das trägt die Handschrift der Macher von Fargo und The Big Lebowski, kommt aber nie in Gang. Was vielleicht daran liegt, dass man zumindest Bücher von McCarthy nicht verblödeln sollte. (Claus Philipp aus Cannes/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21. 5. 2007)