Grafik: Der STANDARD

Bild nicht mehr verfügbar.

Das Oze-Moor auf 1700 Meter Seehöhe.

Foto: pref.gunma.jp
Schlag fünf Uhr früh wird das Haus in gleißendes Licht getaucht. Die Japaner springen fast gleichzeitig in jenem Moment von den Tatamimatten, in dem irgendwo jemand den Zentrallichtschalter gekippt haben muss. "Asa-gohan! Frühstück! Wir müssen gehen!"

Die Touristen aus Europa gähnen und drehen sich wieder um. Wozu um fünf Uhr aufstehen, fragt ihr trüber Blick, wenn es erst ab sechs Uhr gebratenen Fisch, eingelegtes Gemüse und vergorene Sojabohnen auf nüchternen Magen gibt? Es scheint, das ganze Haus hat Beine bekommen, um Richtung Speisesaal zu strömen. Die Ersten reihen sich schon vor dem Tresen ein: Tablett abholen, eine Tasse grünen Tee übernehmen, zum Tisch mit Nummer soundso setzen, und schon schieben die Stäbchen in den Fingern Fisch und Reis in die plappernden Münder. Arigato! Danke und zum Ausgang, bitte. Die nächsten dreißig sind dran. Hier verliert im Morgengrauen niemand Zeit. Die Routine des Küchenpersonals werkt im Takt mit perfekt funktionierenden Gästen.

Keiner der europäischen Mitwanderer hat bis dahin ein Ohrwaschel gerührt. Sollen sie doch liegen bleiben, diese Ahnungslosen! Wenn Wanderführer Kaori sagt, wir stehen um fünf Uhr auf, dann hat man dem Folge zu leisten. Jede Regel ist Gold wert im Gemeinschaftsleben der Japaner, und höchstens ein Gaijin, ein Ausländer, mag es sich leisten, sie zu missachten.

Kaori hat am Abend davor auch vorgegeben "Abmarsch ins Moor um halb acht!" So stehen die Europäer in verknitterten Hosen bereit und die Japaner, flächendeckend so weit das Auge über sie reicht, sind beschützt von Topfhüten in Beige oder Grau. Über alle zieht der graue Morgendunst, der zu dieser Stunde das Rostrot des Moorgrases noch verhüllt. Wer weiß hier schon auf diesem Hochplateau auf 1700 Meter Seehöhe, ob die Sonne hinter dem fast zweieinhalbtausend Meter hohen Hiuchigatake, dem Shibutsu-san oder dem Berg Keizuru aufgehen wird? Unter dem grauen Schleier ist alles ruhig. Man mag sich jetzt nicht darum kümmern, wo hier Osten ist. Man mag nur dieses Grau aufsaugen, weil es den noch müden Körper kühl umschmeichelt. Die Sonne wird dieses Gefühl noch bald genug erwärmen.

Der Wandertrupp setzt sich pünktlichst in Bewegung, nicht ohne dass uns der kleine, drahtige Kaori hier im Nikko Nationalpark noch klare Anweisungen gibt. Er zeigt auf die Holzplanken unter sich. "Sie möchten bitte nur auf diesen gehen. Wenn Sie sie verlassen, zerstören Sie kostbares Naturgut." Immer wieder wird er an diesem Wandertag wiederholen, dass kein Fuß ins morastige Nass gesetzt werden darf.

Kaori bedeutet mit der Hand die Marschrichtung. Die kilometerlangen Holzplanken werden in den nächsten Stunden mit unseren Schritten mitfedern und uns tief hinein in das größte Moor Japans bringen. Man möchte als bekennender Tokio-Fan, dem Ausflüge ins Grüne nur selten passieren, sagen: Es ist vielleicht die schönste und stillste Landschaft Japans. Seit siebentausend Jahren wächst sie hier, birgt ein paar hundert kleiner tiefschwarzer Moorseen in sich. Der Winter gibt ihr ein halbes Jahr Zeit, unter einer ein Meter hohen Schneedecke zu rasten, ehe sie zur Regenzeit im Frühsommer Blütenfelder aus weißen Calla gebiert und wenige Wochen später schon die ersten Ahornbüsche rot von den Hügeln glühen.

Das Oze-Moor hat ein geplantes Kraftwerksprojekt überdauert, und heute kümmert sich ein Stromerzeuger um seinen Erhalt. Mit diesem nehmen die Japaner es sehr ernst. Man spricht von einem nationalen Schatz, den es zu bewahren gilt. Die japanischen Wanderer nicken, sie haben darüber schon zu Hause eine Dokumentation im Fernsehen gesehen. Wanderführer Kaori weiß das natürlich auch. Auf seiner Jacke glänzt ein Button mit drei grünen Blättern drauf. "Haltet Oze sauber!" Die Gäste im Moor bekommen auch alle einen.

Das Gehen auf den schmalen Holzplanken über Stunden ermüdet. Da hilft der schöne Anblick nichts. Kaori hält die Gruppe bei jedem Wanderer, der aus der Gegenrichtung kommt, an. So läuft der Gänsemarsch immer wieder auf zu einer stolpernden Masse, und die freundlich Grüßenden schieben sich an uns vorbei. Kaori wiederholt geduldig seine Anweisungen. Man möge zur Seite treten. Man möge nicht stolpern. Man möge keinen unvorsichtigen Schritt ... kudasaiii! biiitte!

Unterwegs hier in Oze, am Mount Takao, in Hakone am Fuße des Fuji oder südlich von Tokio am Tempelwanderweg in Kamakura, beim Wandern lernt der Europäer von den Japanern Disziplin. Gekennzeichnete Wege werden nicht verlassen. Nicht weil es den einen oder anderen nicht doch reizen würde, eine Abkürzung zu gehen, sondern weil es die Sicherheit gebietet. Und weil eine Regel eben eine Regel ist. Auf diese wird auf dutzenden von Hinweisschildern mit aufgemalten Comics entlang der Wege hingewiesen.

Ein Wispern huscht durch den Gänsemarsch. Herr Sato ist abgerutscht! Der alte, kluge Mann, der uns gestern am Abend in der Hütte so besonnen die Geologie der japanischen Alpen erklärt hat, hängt verwirrt unterhalb des Weges fest. Er kämpft sich schrittweise auf dem rutschigen Grund zurück auf seinen Weg, seine Hand zieht er an die Brust. Es sei alles in Ordnung. "Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen zur Last falle", sagt der Herr und findet sein Lächeln wieder. "Ich habe nicht gut genug aufgepasst." Wir wollen ihm den Rucksack abnehmen, weil sein Handgelenk schon anschwillt. Dem Japaner ist es peinlich, dass die Gruppe wegen ihm anhalten muss. Das Aufheben um seine Person ist es ihm auch. "Gehen Sie nur", sagt er, "ich möchte Sie nicht weiter belästigen."

Die Wanderer sind erleichtert, das Problem scheint gelöst. Die paar Europäer unter ihnen diskutieren noch, ob man jemals das Höflichkeitsverhalten dieser Inselbewohner verstehen werde. Und sie machen sich darüber lustig, dass die von einigen japanischen Wanderern mitgebrachten Steigeisen zwar schön im Karabinerhaken klimpern, aber bei einem Fehltritt im Moor auch wenig helfen. Kaori reißt uns alle aus unseren Gedanken. Bitte, wir mögen unsere werte Aufmerksamkeit auf die Natur richten. Hier die weiße Calla, dort die kleine Alpenlilie und erst die unglaubliche Vielfalt der Libellen. Routiniert setzt der Wanderführer fort: "Bleiben Sie auf dem Steg, treten Sie nicht daneben, achten Sie auf die kostbare Natur!" Kaori hält uns auch die nächsten Stunden wohlgeordnet auf Trab, und wir verstehen, dass japanisch Wandern gar nicht so einfach ist. (Andrea Waldbrunner/Der Standard/RONDO/20.07.2007)

Vielleicht die schönste und stillste Landschaft Japans: das Oze-Moor auf 1700 Meter Seehöhe. Die Japaner betrachten das Gebiet als nationalen Schatz, den es zu achten gilt, Sondertouren auf Abwegen sind undenkbar.

Fotos: Waldbrunner