Foto: Bibliothek der Provinz
Was ist Traum, was Vorstellung - zumeist abschätzig "Einbildung" genannt - was Wirklichkeit? Wenn frau/man will, so fließen die Grenzen ineinander, lösen sich auf und das Bild, das daraus entsteht, kann ein großartiges sein. Vorausgesetzt nötige Sorgfalt, ausgeprägte Fantasie und schreiberisches Talent sind am Werk. Gerda Sengstbratl vermag diesen Spagat zu ziehen. Und sie vermag es gut.

In dem "Roman in lyrischer Prosa" legt sie ihr Debüt vor, das die Geschichte von Lene erzählt. Einem Mädchen, dem das Er-Leben verschiedener Realtäten so notwendig geworden ist wie das vielzitierte tägliche Stück Brot. Hineingeboren in eine Fleischerfamilie ist sie von Anbeginn mit der blutrünstigen Brutalität vertraut, die nicht auf das Schlachtvieh begrenzt bleibt. Sie erleidet, wie sich die Dumpfheit der Sinne und des Herzens ausdehnen auf das Miteinander der Menschen, Derbheit und Verderbtheit nach sich zieht.

"Urgroßmütter, Großmütter und Mütter froren bei Fleischern. Immer anfangs, gleich nach der Heirat, gleich nach dem Kinderkriegen, war es besonders schlimm. Ganz hörte es eigentlich nie auf". Und so ist auch ihre Mutter "eine, die seelenruhig weiter Fenster putzte, wenn sie Lenes Hilfeschrei hörte: Ein Krabbelkind drohte im Dorfschwimmbecken zu ersaufen".

Lene überlebt die Gleichgültigkeiten, Dumpfheiten, Derbheiten. Alleine ist sie in einer Welt, in der rohe Fleischberge und deren Verarbeitung wichtiger sind als das Wohlergehen eines kleinen Mädchens. Verzweifeln muss sie dennoch nicht. Fühlt sich in den anderen Realitäten aufgehoben, die nur für sie zu existieren scheinen. Den Menschen der Rohfleisch-Wirklichkeit sind solche Ebenen verschlossen. "Spinnereien" sagen sie und schütteln ihre Köpfe.

Als Lene zur Frau herangewachsen ist, begibt sie sich in weitere fremde Bereiche. Wählt einen Afrikaner zum Mann. Hofft nun, nicht mehr alleine zu sein. Es kommt anders: "Lene hatte geliebt, was ihr am fremdesten war. Warm und kalt hatte sich die Wirklichkeit hinter dieser Welt ausgebreitet. Sie war aus der scheinbaren Sicherheit des weißen Europa gefallen. Sie war unwiderbringlich aus dem, was vielen, die sie umgaben, fest und stabil schien, gestürzt. Beim Aufprall hatte sie die Härte des Steinpflasters gefühlt und die Risse, Brüche und Gräben, die sich auftaten. Nun lag sie irgendwo dazwischen. Das Leben schien ihr zerbrechlich und einsam".

Keine leichte Kost, die hier hier verabreicht wird. Doch aufgrund des Hin- und Herwanderns von Zeit- und Wirklichkeitsdimensionen ist dieses Buch alles andere als depressiv. Es klärt Realitäten und beflügelt die Fantasie gleichermaßen. Und vielleicht sind dadurch erstere leichter zu ertragen. Jedenfalls sehr empfehlenswert! ( die Standard.at/dabu, 01.08.2007)