Foto: Rottenberg

Es war vergangen Woche. Und begann als die Sintflut kam. Wann das war? Gute Frage. Denn wenn mich mein Vater nicht angerufen hätte, hätte ich auch geglaubt, dass das halt einfach einer dieser mittlerweile üblichen kurzen, heftigen Spontanmonsun-Sommerregen gewesen ist. Und auch als mein Vater anrief und klagte, dass er keinen Strom mehr habe, dachte ich mir nix dabei – und sagt, er solle halt nachschauen, welche Sicherung geflogen sei. Vermutlich genüge es, wenn er den FI-Schalter wieder hochklappe.

Mein Vater ist über 90 Jahre alt. Also in einem Alter, in dem technische Banalitäten Abenteuer sind. Deshalb wunderte ich mich nicht, als er zwei Stunden später wieder anrief: Er habe noch immer keinen Strom. Und Wienenergie sage, dass es keine Störung gebe. Er mache sich Sorgen um den Inhalt seines Eiskastens.

Stiegenlift

Ich nicht. Ich dachte eher an den nicht funktionierenden Stiegenlift – und an einen 90-jährigen, der da im Dunkeln eine Stiege zu bezwingen versucht, die (hatten die Stiegenlifteinbauer jedenfalls gesagt) nach heutiger Bauordnung so nie gebaut werden dürfte und über die wir uns als Kinder oft genug derstessen hatten. Aber so was erwähnt man gegenüber alten Leuten besser nicht.

Außerdem hatte mein Vater zehn Minuten später ohnehin wieder Strom: In der Favoritner Reihenhaus-Gemeindebausiedlung sei auf einmal ziemlich viel Feuerwehr zu sehen gewesen. Und er, so mein Vater, habe einen vorbeieilenden Nachbarn abgefangen. Der habe ihm dann erzählt, dass die Feuerwehr die Keller auszupumpen. Ob denn, fragte der Nachbar, Vaters Keller nicht unter Wasser stehe?

Ein Meter Wasser

Mein Vater musste zugeben, dass er keine Ahnung hätte: Die Kellerstiege ist etwa doppelt so steil wie die vom Erdgeschoss hinauf – und irgendwann hatte sogar mein Vater eingesehen, dass er für sein Alter zwar mobil, für diese Treppe aber doch nicht mehr alpintauglich genug ist. Also ging der Nachbar nachsehen: "Wie bei allen – etwa einen Meter hoch," erklärte er meinem verdutzen Vater, "aber es ist schon wieder fast alles abgeflossen." Aber als die Waschmaschine geflutet worden war, habe das wohl (und aus gutem Grund) den Strom im ganzen Haus abgeschaltet.

Am nächsten Tag war einer meiner Brüder im Keller: Etwa 1,20 Meter hoch war die Wassermarke. Heiztherme, Waschmaschine, Tiefkühler & Co? Hinüber. So wie alles andere, was da gelagert gewesen war: Der Keller-Tsunami dürfte so schnell und heftig aus dem Abfluss geschossen sein, dass es alle nicht fest verankerten Regale (also die uralten Kästen mit Marmelade, Kompott, Werkzeug und vor allem den uralten, wunderschönen Kinderbüchern und sonstigem Zeug) einfach umgeschmissen hat. Da unten, seufzte mein Bruder, sähe es in etwa aus, wie in den Kellern und Wohnungen rund um Schwertberg nach dem Hochwasser 2002. Nur eben im Reihenhaus-Einzelschicksalmaßstab.

Kein Schlamm

In Schwertberg hatte ich damals schaufeln gelernt. Aber am Wienerfeld, sagte mein Bruder, wäre das nicht notwendig: Der Kanal habe nur Dreckwasser ausgespuckt und wieder eingesogen. Schlamm gäbe es kaum – dafür aber jede Menge Sperrmüll, Dreck und Schutt. Aber weil eine Favoritner Arbeitersiedlung kein Landstrich ist (und zugegebenermaßen ein paar Dutzend Keller keine existenzielle Bedrohung) beschränke sich die öffentliche Hilfe auf ein paar Mulden, die die Gemeinde hier aufstellen wolle. Da könne man alles, was weg muss, reinschmeißen.

Am Wochenende haben wir dann reingeschmissen. So wie ein großer Teil der Nachbarn meines Vaters auch. Aber als wir die erste Scheibtruhe Müll brachten, trauten wir unseren Augen nicht. Da stand zwar alle 200 Meter eine Schuttmulde auf der Straße – aber halt nicht ganz das, was ich (oder meine Brüder oder sonst einer der hier wohnenden, oft älteren Menschen) beim Wort "Mulde" erwartet hätten: Die Stadt hatte nicht die kleinen, jedem von Baustellen her bekannten Teile mit einer auf einer Seite auf knapp über einen Meter heruntergezogenen Ladekante über der Siedlung abgeworfen, sondern Großcontainer. Geschätzte Ladekantenhöhe: Zweieinhalb Meter.

Klettern mit Gehhilfe

Wir überlegten kurz: Sollten wir tun, was eigentlich naheliegend war – also den Schutt, den Dreck und vor allem die wirklich schweren, weil vollgesogenen kaputten Sperrholz-Uraltteile einfach vor dem Container abladen? Bei Beschwerden oder Klagen von "Wiener Wohnen" würde mein 90-jähriger Vater gern mit seinem Senioren-Gehhilfe-Rollwagerl demonstrieren, wie er behände einen alten Kasten auf eine Leiter hievte – um sie dann in den Container zu wuchten. Zwei oder drei seiner nicht wesentlich jüngeren Nachbarn könnten dabei Haltungsnoten verteilen. Die anderen die Rettung anrufen.

Aber weil mein Vater jener Generation angehört, der erfolgreich eingebläut wurde, dass jede kleinste Zuwendung der Kommune per se schon mit Dankbarkeit und Glücksgefühlen zu quittieren ist (und damit in einer Gemeindebausiedlung dieses Alters nicht ganz alleine steht), ließen wir das bleiben. Wir borgten uns vom Nachbarn eine Gartenleiter aus ("Die haben meine Kinder gestern dagelassen. Ich hab zuerst nicht gewusst wieso, aber ihr seid heute schon die Vierten, die sie sich ausborgen. Ich will ja nix sagen – aber ein bisserl deppert sind die von der Stadt schon, gell?"") und wuchteten dreckig tropfenden, nassschweren Müll über unsere Köpfe.

Irgendwann klatsche mir dann ein altes Buch aus einer matschigen Kiste von oben vor die Füße. Den Titel konnte ich noch erkennen: "Die Bürger von Schilda." (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 13.8.2007)