Marx Kommunismus Theorie
So treuherzig und zugleich unversöhnlich blickte Karl Marx einst auf die Bewohner von Chemnitz hernieder.
imago images/Dirk Sattler

Längst verblüfft das Comeback der heimischen KPÖ nicht mehr nur eingefleischte Marktliberale. Nach Wahlsiegen in Graz und in Salzburg geht im ganzen Land, wenn auch noch auf leisen Sohlen, "das Gespenst des Kommunismus" um. Sogar Andreas Babler, aussichtsreicher Bewerber um den Bundesvorsitz der SPÖ, deklarierte sich auf Puls 24 bei Corinna Milborn als waschechter Marxist. Nur um einige Zeit später im ZiB 2-Studio eine solche Festlegung wieder zu dementieren. Ob nun orthodox marxistisch oder nicht, Marktforscher orten für linke Gesinnungspolitik ein beachtliches Wählerinnenpotenzial: In Zeiten galoppierender Teuerung und tendenzieller Verarmung besteht reges Interesse an Umverteilungsideen. Neo-Kommunisten wie KPÖ-Bundessprecher Tobias Schweiger fordern freundlich den gesellschaftlichen Lastenausgleich.

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DER STANDARD

Den Mieten gehöre ein Deckel aufgesetzt. Die Gesundheit müsse leistbar bleiben, gefördert gehören die Dinge des täglichen Bedarfs. Manche dieser sozial regsamen Neo-Kommunistinnen spenden Teile ihres Gehalts (wie die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr) und tragen ganz allgemein die Charaktermaske von Ombudsleuten zur Schau. Die rasch wachsende Beliebtheit dieser Linken in Worten und Werken gründet auf persönlicher Integrität: Sie beinhaltet die Forderung nach Almosen. Doch seltsam: Die politisch-ökonomische Lehre des Philosophen Karl Marx, einst Herzstück jeder marxistischen Politik, bleibt in den Verlautbarungen dieser frohgemut Umverteilenden ausgespart. Niemand, der die Frage nach der Verfügung über die Produktionsmittel stellt. Kein Hinweis auf die angeblich gesetzmäßige Entwicklung des Kapitalismus. Ihr zufolge führen die sich verschärfenden Klassengegensätze unweigerlich zur Revolution. Einzig die Diktatur des Proletariats verhilft zur klassenlosen Gesellschaft: keine Grille Marx’, sondern unumstößliche Gewissheit.

Die angebliche wissenschaftliche Wahrheit solcher Voraussagen begründete einst den ganzen Stolz jedes Kommunisten. Was hat es auf sich mit der neuen theoretischen Zurückhaltung? Bedeutet Kommunismus lediglich die Fortsetzung von Sorgearbeit mit anderen Mitteln? Geben Kommunisten von vornherein klein bei? Wir haben die Philosophin Lisz Hirn sowie ihren Kollegen Konrad Paul Liessmann um Rat gefragt – gerade Letzterer legte einst mit Man stirbt nur zweimal (1992) ein brillantes Marx-Buch vor.

Philosoph Marx Theorie
Konrad Paul Liessmann warnt die Enkelkinder Karl Marx' vor Beliebigkeit.

Konrad Paul Liessmann: "Eine Wohlfühlpartei tut niemandem weh"

Es mag sein, dass die Erfolge der KPÖ auf kommunalpolitischer Ebene in erster Linie mit sozialem Engagement, persönlicher Glaubwürdigkeit und der Konzentration auf das Thema leistbares Wohnen zu tun haben. Stellt man in Rechnung, dass die KPÖ in Österreich bis vor kurzem unter der Wahrnehmungsschwelle firmierte und deshalb mit diesen Themen und Haltungen kaum assoziiert werden konnte, mag sich in der Tat der Gedanke aufdrängen, dass hier ein historisch gewordenes Logo von einer jungen Bewegung "freundlich" übernommen wurde.

Allerdings sind KPÖ bzw. Hammer und Sichel keine Markenzeichen, deren positive Aura man sich zunutze machen könnte, ohne die Geschichte dieser Partei und Bewegung mitzunehmen. Vom marxistisch-leninistischen Theoriegebäude über die Forderung nach Abschaffung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem bis zu den historischen und gegenwärtigen Verbrechen kommunistischer Diktaturen reicht der Ballast, der in diesem Namen steckt. Oder, um es mit Marx zu sagen: "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden."

Das gilt auch für die KPÖ. Gerade ihr Erfolg, sollte er anhalten, wird sie dazu zwingen, sich mit diesem Albdruck auseinanderzusetzen. Fatal wäre es, wenn diese Erfolge auch mit einem augenzwinkernden Einverständnis der Wähler und wohlgesonnener Medien mit dieser ungeklärten dunklen Geschichte zu tun hätten oder man gar offensiv mit dem totalitären Potenzial, das im Attribut "kommunistisch" steckt, kokettierte.

Akute Theorieabstinenz

Es stimmt: In den aktuellen Debatten berufen sich die Akteure der KPÖ kaum noch auf das klassische Theoriearsenal der marxistischen Linken. Das mag einige beruhigen, eine links angehauchte Wohlfühlpartei tut niemandem weh. Allerdings: Der Verzicht auf eine auch theoretisch anspruchsvolle Fortführung der klassischen Kritik der politischen Ökonomie will in einer Zeit nicht so recht einleuchten, in der Marx auch von bürgerlichen Medien akklamiert wird.

Für die Theorieabstinenz der österreichischen Kommunisten gibt es nur zwei Erklärungen: Entweder sie sind intellektuell zu einer kritischen Analyse der Gesellschaft nicht mehr in der Lage, oder sie halten sich mit ihren eigenen Zielen und Vorstellungen vornehm zurück, um die frühe Phase der Akzeptanz im politischen Meinungsspektrum nicht zu gefährden. Letzteres war übrigens immer eine Variante kommunistischer Strategie gewesen. Aus dem oben Gesagten ergibt sich für mich, dass ich dem Anschein, es handle sich bei KPÖ plus nur um eine andere Form einer verlängerten Sorgearbeit, nicht ganz traue. In der realen politischen Praxis mag dies sicher ein entscheidender Punkt sein. Ob dies gleich der Ausdruck einer generellen Wende zur Verantwortungsethik ist, wage ich zu bezweifeln.

Am Rande sei bemerkt, dass die Moralisierung der Politik selbst eher antimarxistisch ist. Für Marx ging es weder um Gesinnung noch um Verantwortung, sondern um die Einsicht in die Sprengkraft gesellschaftlicher Verhältnisse. Es wäre nicht uninteressant, wenn es eine linke Theorie gäbe, die das Marx’sche Projekt der Ideologiekritik auch auf die eigenen Moralvorstellungen anwenden könnte.

Konrad Paul Liessmann (70) ist emeritierter Professor für Philosophie.

Hirn Theorie Marx
Philosophin Lisz Hirn fühlt sich an die Tätigkeit von Ombudsleuten erinnert.
Hendrich

Lisz Hirn: "Selbstlose Wanderprediger"

Die punktuellen Wahlerfolge der Neokommunisten machen uns zu Unrecht verlegen. Die Punktualität zeigt, dass der Neokommunismus vor allem ein städtisches Phänomen ist. Dort, wo viel von wenigen besessen und wo wenig für viel bekommen wird, erwartet man berechtigterweise, marxistische Ideen entflammen zu können.

Doch gerade die Neokommunisten operieren so gut wie nie mit Versatzstücken ihres Säulenheiligen. Einerseits, um potenzielle Interessenten nicht mit zu viel Ideologie zu verschrecken. Andererseits, weil weder das Kapital noch das Kommunistische Manifest zur Pflichtlektüre der Mitglieder gehören. Vielmehr setzt man auf die Philanthropie einiger Ombudsleute, deren Selbstlosigkeit an die mittelalterlicher Wanderprediger erinnert.

Eines haben die erfolgreichen Tochterparteien in Graz und Salzburg mit ihrer pensionierten Mutter gemein: Was sie so alternativlos für die städtischen Sympathisanten macht, ist ihre Ausrichtung auf das konkret, wenn auch nicht dialektisch Materielle. So steht auf ihrer Agenda die Wohnungsnot des oft jungen und gut ausgebildeten Prekariats ganz oben.

Lisz Hirn (39) ist Wiener Philosophin.

(Ronald Pohl, 25.5.2023)