Entschleunigung und Grünraum. Meine Familie und ich sind ins Weinviertel gezogen.
Lea Sonderegger

"Vermisst du Wien manchmal?", fragt mich B. Unsere Kinder spielen nach dem Kindergarten auf einem Erdhügel. Kein Spielgerät könnte sie mehr in den Bann ziehen. Sie klettern und graben, Steine und Stöcke sind ihre Werkzeuge, nichts kann sie jetzt ablenken.

Seit bald zwei Jahren lebe ich auf dem Land. Wieder, muss ich ergänzen, ich habe auch meine Kindheit und Jugend in Niederösterreich verbracht. B. hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie kennt das Pendeln in die Stadt so wie ich noch aus der Schulzeit. Sie genoss es, später zum Studieren nach Wien zu ziehen, im Beruf Fuß zu fassen und unbeschwerte Jahre in der Stadt zu verbringen.

Ihr Lebensweg, mein Lebensweg – ich habe über die Jahre zig Menschen aus verschiedenen Bundesländern getroffen, die zunächst zu Ausbildungszwecken nach Wien gegangen sind. Viele bleiben dann auch dort. Freundschaften entstehen, man lernt Partnerin oder Partner kennen, baut sich ein Leben in seinem Grätzel auf. Die Großstadt hat ihre Vorteile: Jobmöglichkeiten, ein gut ausgebautes Öffi-Netz, das kulturelle Angebot, die Versorgung mit Supermärkten und Gastronomie.

Was bringt Menschen wie B. und mich dennoch dazu, der Großstadt wieder den Rücken zu kehren? Immerhin nimmt man dadurch die Mühen eines weiteren Arbeitsweges, eine möglicherweise schlechtere Versorgung mit Kinderbetreuungsplätzen oder sogar die stärkere Abhängigkeit von einem Auto in Kauf.

Da wären natürlich die überteuerten Wohnungen und die Wohnraumknappheit in der Stadt – verknüpft mit anderen Ansprüchen, die wir heute ans Wohnen stellen. Wir leben, konsumieren und arbeiten zunehmend von einem Ort aus. Die Corona-Pandemie beschleunigte diese Entwicklung. "Die Verbindung von Erwerbstätigkeit, Wohnen und Familie ist leichter geworden", fasst es Zukunftsforscher Daniel Dettling zusammen. Er erkennt eine "neue Form des Biedermeier". Da wird Gemüse im Hochbeet gezogen oder Marmelade eingekocht. Das Zuhause als Paradies, das man gar nicht mehr verlassen muss. Auf dem Land lässt sich diese Lebensform besser umsetzen. In der Stadt ist es wegen der steigenden Preise immer schwieriger, sich eine große Familienwohnung zu ermöglichen.

Die Stadtflucht schlägt sich auch in Zahlen der Statistik Austria nieder. Wirft man einen Blick auf Österreichs Städte über 100.000 Einwohner, etwa Wien, Salzburg, Linz oder Graz, sieht man, dass mittlerweile mehr Menschen aus den Städten rausziehen als aus den Regionen rein in die Zentren. Bis vor wenigen Jahren war das noch umgekehrt.

Sehnsuchtsort Dorf

Gehören meine Familie und ich zu diesen Stadtflüchtlern? Hohe Wohnkosten waren auch für uns das wichtigste Argument, die Stadt zu verlassen. Dazu kamen die Nähe zu Oma und Opa, die bei der Kinderbetreuung mitanpacken können, und die Möglichkeiten, die das Homeoffice mit sich bringt. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer in der Kleinstadt und schalte mich in die Redaktionskonferenz, an der mein Chefredakteur aus Wien genauso teilnimmt wie der Korrespondent in Brüssel. Und da ist die Sehnsucht, meinem Kind ein ähnliches Aufwachsen zu ermöglichen, wie ich es selbst erlebt habe: im Dorf mit viel Grün, überblickbarem Freundeskreis und ohne die Hektik, die eine Millionenstadt mit sich bringt. Sorry, Biedermeier – and I like it.

Regionalforscher Michael Beismann sieht als einen der Gründe für die Abwanderungsbewegung aus den Städten Überforderung mit dem derzeitigen Gesellschaftssystem. Die Entwicklung, dass die Leute vermehrt auf das Land ziehen wollen, habe schon vor mehreren Jahren eingesetzt. Ging es bis zur Jahrtausendwende in erster Linie noch darum, in die Stadt zu streben, um sich Wohlstand zu erarbeiten, habe seither parallel dazu eine Bewegung raus auf das Land eingesetzt.

Für ihn ist eine Tomatenstaude, die sich Städter auf den Balkon stellen, oft schon das erste Signal einer sich anbahnenden Sehnsucht nach dem Land. Wer das tue, der suche nach bodenständigen Betätigungsmöglichkeiten – die sich dann schon bald aber nicht mehr in der Stadt einlösen lassen. Paradeiser setzen, um dem stressigen Leben zu entfliehen. Mit diesem Bild will Beismann den Ausbruchsversuch aus dem städtischen Mainstream symbolisieren.

Für viele, wie auch für uns, ein Grund für die Stadtflucht: dem Kind ein Aufwachsen abseits der Hektik der Großstadt zu ermöglichen.
Lea Sonderegger

Tomatenstauden hatten wir mangels Balkon in Wien nicht. Nach den Gesprächen mit den Experten kann ich von ihnen genannte Beweggründe, der Stadt den Rücken zu kehren, aber schon nachvollziehen. Obwohl wir jetzt nur 21 Kilometer von unserer alten Adresse in Wien-Leopoldstadt entfernt sind, schätzen wir viele Unterschiede zum Leben in der Stadt. Wie entspannend es beispielsweise ist, in der Supermarktschlange nicht mindestens fünf Personen vor sich stehen zu haben, sondern maximal zwei. Oder wie gut es tut, den Blick ins Grüne schweifen zu lassen, ohne extra irgendwo hinfahren zu müssen.

So richtig auf dem Land wohnen wir aber nicht. Unsere neue Heimatgemeinde Wolkersdorf ist ein regionales Zentrum, lerne ich von der Urban-Rural-Typologie der Statistik Austria, eine Zwischenstufe zwischen urbanem Zentrum und ländlichem Raum. Das klingt definitiv besser als Speckgürtel, wo man an Schlafburgen und verlassene Straßenzüge denkt. Wolkersdorf ist zum Glück nicht so, hier lebt man und wohnt nicht nur: Es gibt viele Veranstaltungen und fußläufig erreichbare Einkaufsmöglichkeiten. Die Öffi-Anbindung nach Wien ist mit einer S-Bahn alle 15 Minuten ausgezeichnet.

In der vernetzten Welt kann ich von zu Hause aus am Weltgeschehen teilnehmen. Gleichzeitig schätzen wir die kleinteiligen, lokalen Strukturen vor Ort.
Lea Sonderegger

Vermisse ich die Stadt manchmal? Nein, antworte ich B. beim Erdhügel. Die Kleidung unserer Söhne hat mittlerweile einen neuen Zustand erreicht, mehr Gatsch als Stoff. Ich bin ja im Schnitt ohnehin zweimal pro Woche zum Arbeiten in Wien. Das reiche mir schon.

Später denke ich über ihre Frage nochmals nach. Ja, es gibt Dinge, die mir abgehen: nach einem langen Arbeitstag unkompliziert im Restaurant meiner Wahl zu essen. Oder beim Treffen mit Freundinnen nicht dann nach Hause gehen zu können, wenn mir danach ist, sondern ständig auf die Uhr zu schauen, um den Zug nicht zu verpassen. Der letzte Rest vom weißen Spritzer bleibt meist im Glas, weil ich zum Bahnhof eilen muss.

Langsameres Tempo

Sitze ich dann aber in der Schnellbahn und lasse die Stationen hinter mir, steigt die Vorfreude auf zu Hause. Handelskai, Floridsdorf, Siemensstraße, Leopoldau, Gerasdorf, die Wagons leeren sich. Bald habe ich mein Ziel erreicht. Der Stadt im gleichmäßigen Takt der Bahn den Rücken zu kehren holt mich runter. Egal ob ich vom Frühdienst bei der Zeitung, vom Termin beim Zahnarzt oder vom lustigen Freundinnentreffen heimfahre, ich spüre, wie ich mich mehr und mehr entspanne, je weiter ich mich von Wien entferne. Der Stress fällt ab, und ich schalte einen, oft auch zwei Gänge hinunter.

Ich fühle in diesem Moment, dass mein Umzug aufs Land mehr als das Wechseln der Adresse ist, es ist mein Weg zur Entschleunigung. Vielleicht enthält meine Stadtflucht sogar Spuren von Weltflucht, im Sinne von: Ich will das hastige Tempo nicht mehr mitgehen, das mir in der Großstadt vorgegeben wird.

Nach diesem Erkenntnisgewinn lasse ich mir die vermeintlich negativen Aspekte des Landlebens noch einmal durch den Kopf gehen. Sich spontan gutes Essen liefern zu lassen, wie wir es in Wien manchmal gemacht haben, geht zum Beispiel nicht mehr.

Ist das wirklich zu meinem Nachteil? Nein, stelle ich fest. Selbst zu kochen ist gesünder – ökologischer und günstiger obendrein. Willkommen daheim! (Rosa Winkler-Hermaden, 27.5.2023)