Russland schwingt wieder die Atomkeule: Am Donnerstag verkündete der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko, die von Moskau angekündigte Verlegung atomarer Kampfstoffe in sein Land habe begonnen. Und nur einen Tag später drohte Dmitri Medwedew, russischer Ex-Präsident und nun stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats, mit einem Präventivschlag, sollte der Westen der Ukraine Atomwaffen zur Verfügung stellen. Wie ernst ist dieses erneute Säbelrasseln? DER STANDARD beantwortet die wichtigsten Fragen

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Frage: Was ist genau passiert?

Antwort: Ende März kündigte Kreml-Chef Wladimir Putin die Verlegung taktischer Atomwaffen in die Ex-Sowjetrepublik Belarus an. Er verwies darauf, dass auch die USA bei Verbündeten in Europa Atomwaffen stationiert haben. "Wir machen nur das, was sie schon seit Jahrzehnten machen." Washington hat entsprechende Waffen etwa in Deutschland, in den Niederlanden, in Italien, Belgien oder in der Türkei gelagert – so die Vermutung, denn offizielle Infos gibt es dazu nicht.  

Konkret wurde Russlands Ankündigung als Reaktion auf Großbritanniens Entscheidung gesehen, der Ukraine Munition mit abgereichertem Uran zu liefern. Dabei handelt es sich aber nicht um Atomwaffen. 

Putin Lukaschenko
Mit der Stationierung von russischen Nuklearwaffen in Belarus wird auch das Verhältnis zwischen Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin inniger.
AP/Pavel Byrkin

Frage: Wie weit sind Russland und Belarus bei der Umsetzung?

Antwort: Lukaschenko hat am Donnerstag erklärt, dass die Verlegung der Atomwaffen bereits begonnen habe. Putin habe ihn am Mittwoch über die Unterzeichnung eines entsprechenden Dekrets informiert. Ob sie sich bereits in Belarus befinden, wusste er zu diesem Zeitpunkt selbst nicht, wie er zugab. "Vielleicht, ich kehre zurück, dann werde ich es sehen", antwortete er auf eine entsprechende Frage. 

Anfang April begann die Schulung für belarussische Soldaten im Umgang mit taktischen Atomwaffen. Das Land, so der Plan, soll Iskander-Raketen mit atomaren Sprengköpfen erhalten; auch mehrere belarussische Kampfflugzeuge würden auf die neuen Waffen umgerüstet. Die Waffen sollen an der Grenze zu Polen stationiert werden.

Frage: Was sind taktische Atomwaffen?

Antwort: Sie haben im Vergleich zu strategischen Atomwaffen einen kleineren Sprengkopf und eine geringere Reichweite. Konkret liegt die Sprengwirkung zwischen einer und 50 Kilotonnen TNT, die Reichweite bei mehreren hundert Kilometern. 

Strategische Nuklearwaffen haben eine Reichweite von mehreren tausend Kilometern und sind etwa für Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber oder U-Boote konzipiert. Damit haben die USA und die Sowjetunion einander im Kalten Krieg bedroht. 

Frage: Steigt damit die Gefahr eines nuklearen Angriffs?

Antwort: Sind die Nuklearwaffen in Belarus angekommen und einsatzbereit, könnte Russland damit unter anderem Deutschland, Schweden, Polen oder das Baltikum angreifen. Dazu war Moskau aber mit seinem umfangreichen Atomwaffenarsenal schon vorher in der Lage, unter anderem durch im Kaliningrader Gebiet stationierte Atomwaffen und Trägersysteme.

Deshalb gingen Experten wie der deutsche Sicherheitsexperte Christian Mölling oder der österreichische Militärexperte Gustav Gressel schon bei der Ankündigung Ende März davon aus, dass dadurch die Gefahr eines Atomwaffenangriffs nicht steigen werde. Auch das Institut für Kriegsstudien (ISW) erklärte: "Die Ankündigung der Stationierung taktischer Nuklearwaffen in Belarus ist irrelevant für das Risiko einer Eskalation zu einem Atomkrieg, das nach wie vor äußerst gering ist." Die ISW-Experten hielten Putins Ankündigung eher für eine "weitere Informationsoperation".

Diese Einschätzung bekräftige das ISW am Freitag. Es ortet weiterhin keine erhöhte Bedrohungslage.

Frage: Was bezweckt Russland dann mit diesem Schritt?

Antwort: Es ist trotz allem ein starkes Zeichen an den Westen und die Nato. Vor allem aber ist es ein Weg Moskaus, seinen Einfluss in Belarus auszubauen. Durch die neuen Waffen sei ein Ausbau der militärischen Infrastruktur und der russischen Kommandostrukturen dort notwendig. Die Atomwaffen blieben unter russischer Kontrolle. Der Kreml beabsichtige auf diese Weise, sich die Sicherheitsstrukturen in Belarus weiter unterzuordnen, so das ISW.

Belarus, das wirtschaftlich und finanziell von Russland abhängig ist, erhält nach der freiwilligen Abgabe seiner Atomwaffen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erstmals seit den 1990ern-Jahren wieder nukleare Raketen. Damit, so Experten, verstärke der Schritt auch das Festhalten Russlands an Belarus. Moskau könne sich von diesem Land nun nicht mehr so einfach abwenden – so gesehen hat auch Lukaschenko eine Art Rückversicherung. 

Frage: Und was hat es mit Medwedews Warnung auf sich?

Antwort: Galt der ehemalige Kreml-Chef einst als Gemäßigter in der russischen Politspitze, fällt er in Sachen Ukrainekrieg nun in regelmäßigen Abständen mit kruden, drastischen Wortspenden auf. Dazu gehören auch immer wieder Drohungen mit Atomwaffen. Sein Chef Wladimir Putin hat seit Beginn der Invasion der Ukraine ebenfalls immer wieder die Atomkeule geschwungen. Er sprach oft von "roten Linien", sollte der Westen der Ukraine etwa Kampfpanzer oder Kampfjets liefern. Das ist mittlerweile geschehen, ein nuklearer Angriff Russlands blieb aber aus.

Abgesehen davon gibt es nicht einmal im Ansatz Anzeichen dafür, dass der Westen tatsächlich der Ukraine Atomwaffen liefern könnte. (Kim Son Hoang, 26.5.2023)