Berge als Erholungsort.
Michael Marchetti

Es sah aus wie ein aufgelegter Elfmeter: eine Pandemie, tausende gekündigte Piloten und Pilotinnen, und wir hatten das passende Online-Programm für berufliche Neuorientierung dazu in monatelanger Arbeit auf den Boden gebracht. One Eight Zero, eine 180-Grad-Wende: Der Name der Firma war Programm. Expertinnen und Experten prophezeiten der Idee eine große Zukunft, das Start-up wurde mit mehreren Millionen bewertet. Mutig. Innovativ. Tolle Sache! Die Bankberaterin, die mir mittlerweile seit Wochen nicht mehr antwortet, gab bei der Eröffnung der GmbH freundlich lächelnd eine goldene Visa Card dazu. Einen Monat bevor wir auf den Markt kamen, hatte die Lufthansa 1.500 Flight-Attendants gekündigt. Der Chef des Kabinenpersonals zeigte sich am Telefon interessiert. Doch dann entschied das Leben anders.

"Ich will!"

Zu dieser Zeit, im März 2022, kochen in mir zwei Worte: Ich will! Alles dreht sich nur darum. Ich will, dass das Programm nach mehreren Verzögerungen endlich an den Start geht. Ich will, dass uns die Piloten und Pilotinnen die Tür einrennen. Ich will es meinen Ex-Chefs beweisen. Mir selbst sowieso. Und ich will das Geld zurück, das ich in die Idee gesteckt habe, je schneller, desto besser. Das Leben aber lässt sich Zeit. Die Kundschaft auch. Mit jedem Tag, der vergeht, verkrampft es sich etwas mehr in mir. Kreuzschmerzen quälen mich und zwingen mich wortwörtlich in die Knie. Fünf Minuten stehend auf die U-Bahn zu warten wird unmöglich. Auf der Autobahntoilette muss ich mich an die Wand lehnen, um beim Pinkeln überhaupt stehen zu können. Ich fühle mich wie 90, schlittere in eine Depression, die Beziehung ist belastet, jede Leichtigkeit verloren. Als wäre ich nach einem Marathonlauf im Ziel angekommen, aber da ist niemand weit und breit.

"Was machst du jetzt eigentlich beruflich?", fragt meine fast 80-jährige Mutter, und ich weiß nicht mehr, was ich antworten soll. Zigmal habe ich es ihr erklärt, immer klingt es nach: "Nächste Woche gibt’s den großen Durchbruch!" Sie seufzt: "Aber es fliegen ja alle wieder!" Gutes Argument. Schlecht fürs Business. Mein Alltag besteht jetzt darin, Bugs im Programm ausfindig zu machen und neue Kunden finden, Sales heißt das. Es bedeutet, hunderte Mails zu schreiben, Anruflisten abzuarbeiten, an Türen zu klopfen, um Menschen, die sowieso keine Zeit haben, von einer Idee zu überzeugen. Eine Odyssee. Kooperationen bahnen sich an. Verlaufen im Sand. Warum?

"Turn to yourself" ist das neue Motto von Michael Marchetti.
Michael Marchetti

Schmeichelnde Trittbrettfahrer

Vielleicht weil tief in mir eine Angst steckt, jemand könnte unsere Idee abkupfern und daran verdienen. Ich will mich nicht über den Tisch ziehen lassen. Schulterklopfer gibt es genügend, sie bieten das Du-Wort an, sie schmeicheln, sie laden zum Essen ein, aber eigentlich wollen sie Trittbrett fahren. Ich will nicht naiv sein. Also bin ich schlau. Und stehe am Ende wieder allein da. Das Leben zeigt mir sehr deutlich meine eigenen Grenzen. Aber noch bemerke ich nicht, dass ich das auch ändern kann. Das ewige Hinterherhecheln, die Konkurrenz-Paranoia, der Kontrollzwang, die Illusion, die Dinge lenken zu können. Ein bisschen darf ich das noch mit mir rumschleppen.

Im Sommer habe ich die Nase voll. Auch von den eigenen Widersprüchen, die mich aufreiben. An manchen Tagen sehne ich mich nach dem Fliegen, nach dem Blick von oben auf die Welt. Was für eine geniale Art, sich fortzubewegen, schwerelos, ein Menschheitstraum. Aber irgendwann ist die Sache aus dem Ruder gelaufen, das energieintensivste Fortbewegungsmittel wurde zum Massentransporter. Das würde ich zu diesem Zeitpunkt so aber nie öffentlich sagen, schließlich will ich es mir mit den Airlines als Kunden nicht verscherzen.

Schmelzen die Gletscher woanders?

Alexis von Hoensbroech, der ehemalige Austrian-CEO, nennt die Diskussion um Kurzstreckenflüge und Klimawandel in einem Podcast eine symbolische, dabei ist längst erwiesen, dass der oder die Einzelne in puncto Reisen nichts Klimaschädlicheres tun kann, als zu fliegen. Als ob die täglich 30.000 Flüge über Europa in einem Paralleluniversum stattfänden und die Gletscher woanders schmölzen. Während die Buchungszahlen der Airlines in die Höhe schnellen und sie ihre Flieger wieder ausmotten, mache ich mich auf den Weg in die Berge. Sieben Tage übernachten auf einer Waldlichtung im Montafon. Im Heustadel. Allein, schweigend, ohne Handy und Notebook. Ich lerne: Meine Kreuzschmerzen, die mich seit Jahren plagen, sind nicht vorhersagbar. Von einem Schritt auf den nächsten können sie auftauchen, sich verstärken oder verschwinden, und je mehr ich darüber nachdenke, desto eher werden sie zum Problem. Also denke ich nicht, sondern gehe. Wenn die Schmerzen kommen, mache ich Pause. Dann gehe ich weiter. Bade im Gebirgsbach. Sitze nachts auf einem Felsen unter einem Sternenmeer. Schlafe im Heu. Entdecke die Welt neu, wie ein Kind. Keine Schubladen mehr, nur unmittelbare Erfahrung. Gerüche. Sonne auf der Haut. Eiskaltes, klares Wasser. Summen von Bienen. Und endlich: das Gefühl, zu genügen. Anzukommen an dem Ort, von dem der Dichter Rumi sagte, er liege "jenseits von richtig oder falsch". Das ist Glück. "Der äußere Erfolg in dieser Welt ist völlig nebensächlich", schreibe ich in mein Notizbuch. "Wir werden alles wieder aufgeben müssen, was wir glauben, erreicht zu haben."

"Was machst du jetzt eigentlich beruflich?", fragte neulich die fast 80-jährige Mutter des Ex-Piloten: "Es fliegen ja alle wieder." Michael Marchetti ist weiter auf der Suche (häufig in der Natur), er will leise die richtigen Fragen stellen, statt laut die falschen Antworten zu geben.
Michael Marchetti

Außen zeigt Inneres

Am Ende der Woche sind meine Kreuzschmerzen verschwunden. Bis heute sind sie nicht zurückgekehrt, und wenn ich daran denke, dass mir ein Arzt damals Fahrlässigkeit vorwarf, weil ich seinem Drängen auf eine OP nicht nachgab, bin ich vor allem dankbar, auf mein Gefühl gehört zu haben.

Zu diesem Zeitpunkt dämmert mir, dass das, was uns im Außen begegnet, immer ein Spiegel unseres inneren Zustands ist. Das ist kein esoterisches Geplapper, sondern auch von Wissenschaftern längst erkannt. Otto Scharmer ist so einer, gebürtiger Deutscher, unterrichtet am MIT in Boston, berät Regierungen weltweit. Ich schreibe mich für seinen Uni-Lehrgang ein, seine "Theorie U" begleitet mich durch den Herbst. Die Welt von der Zukunft aus betrachten, nicht von dem, was wir schon wissen, und wahrzunehmen, wie sich das Leben in jedem Moment neu entfaltet: Das verändert mein Denken. Ich merke, wir brauchen dringend neue Führungspersönlichkeiten, die nicht nur reagieren, sondern zuhören können. Leise die richtigen Fragen stellen, statt laut die falschen Antworten zu geben.

Dass der äußere Erfolg nebensächlich sei, sagt sich leicht und lebt sich dann doch deutlich schwerer. Der Winter wird dunkel. Ich sehe nichts, folge meinem Herzen, wie ein Seiltänzer, unter mir ein gähnender Abgrund. Versagensängste, Albträume in der Nacht, ich kenne das mittlerweile. In der Früh Augenringe im Badezimmerspiegel und die Frage meiner Frau, die irgendwann beschlossen haben muss, mit mir durch dick und dünn zu gehen: "Hast du auch wieder schlecht geschlafen?"

Eine Kapitulation vor der Angst?

Steuern, Bürokosten und die Wartung der Plattform im Netz reißen ein dickes Loch ins Budget, ich kann mir selbst kein Gehalt mehr auszahlen, und ausgerechnet am Geburtstag unserer Tochter, als ich beim Bäcker die Croissants bezahlen will, wird meine Bankomatkarte gesperrt. Fast zur selben Zeit erhalte ich ein Angebot, wieder beruflich ins Cockpit zu steigen. Alle finanziellen Sorgen wären damit weggewischt. Wer Sprüche klopft, wird schnell getestet vom Leben. Ich überlege eine halbe Stunde lang. Wenn ich jetzt zusage, ist das so, als hätte eine jahrelange Entwicklung nie stattgefunden. Als würde ich mir selbst nicht trauen. Wäre es nicht eine Kapitulation vor der Angst? Unser Rettungsboot, davon bin ich überzeugt, ist unsere Einstellung zu den Dingen. Nicht was wir tun, sondern wie wir es tun – das zählt. Das Wie aber liegt immer in unserer Hand.

Also suche ich einen Brotjob auf Augenhöhe. Nicht CEO. Nicht Kapitän in Flugfläche 400 in blütenweißem Hemd mit goldenen Streifen auf den Schulterklappen. Teilzeit, um daneben neue Ideen umzusetzen. In dem Wissen, dass es noch eine Zeitlang schwierig bleiben wird, das Konto nicht zu überziehen. Ich arbeite als Coach, halte Keynotes, schreibe Texte und organisiere Veranstaltungen, die in allen Varianten ein Ziel haben: Menschen zu diesem Ort zu führen, an dem sie nichts müssen, nicht einmal sich selbst etwas beweisen. Dort ist der Startpunkt für die eigentliche Reise.

Natur, Nebel, viel Ruhe: Hier kann man sich selbst finden.
Michael Marchetti

Klimademo statt Champagnerfrühstück

Statt mit steinreichen Kundinnen zum Champagnerfrühstück in die Antarktis zu fliegen, gehe ich zum ersten Mal in meinem Leben auf eine Klimademo. Dort komme ich mir anfangs noch etwas verloren vor, neben Schülerinnen und Schülern, jünger als meine Töchter, hinter einem Lkw mit riesigen Boxen und lauter Musik. Aber da sind auch die Scientists for Future und Großeltern mit ihren Enkeln, und nach ein paar Minuten weiß ich: Hier bin ich richtig!

Lesson learned: Wenn du all dein Geld in ein Projekt gesteckt hast und es nicht aufgeht, dann mach ohne Geld weiter. Mit dem, was dich ausmacht, den Gaben, die du mitbringst. Stell dich auf einen langen Weg ein.

"Turn to yourself", das war das Motto, mit dem ich vor einem Jahr angetreten bin, um ehemaligen Piloten und Pilotinnen einen neuen Horizont zu geben. Da wären wir. Zerschundene Knie vom Hinfallen. Längst nicht am Ziel. Aber mittendrin im eigenen Leben. (Michael Marchetti, 29.5.2023)