Mathilda hält sich mit beiden Händen am Beckenrand fest – und konzentriert sich. So sehr, dass sie gar nicht merkt, wie sehr ihr Körper arbeitet. Obwohl Mathilda im Grunde nichts tut: Dort, wo sie sich – mit einer "Schwimmnudel" unter den Schultern – am Samstagmorgen im Wiener Stadthallenbad am Beckenrand festhält, könnte sie noch bequem stehen.

Samstag in der Wiener Stadthalle: Schwimmlehrerin Katharina Maier bringt Erwachsenen das Schwimmen bei.
Samstag in der Wiener Stadthalle: Schwimmlehrerin Katharina Maier bringt Erwachsenen das Schwimmen bei.
Christian Fischer

Aber das tut Mathilda nicht. Denn am Beckenrand steht Katharina Maier. Und die sagt Mathilda, dass sie die Beine hinter sich strecken soll. Waagrecht, parallel zur Wasser­oberfläche. Mathilda konzentriert sich – und streckt die Beine. Beinahe parallel zur Wasseroberfläche. Jedenfalls fühlt es sich so an. Und auch wenn das alles für Unbeteiligte nach nichts aussieht, ist das das Gegenteil von "nichts". Weil Mathilda nicht schwimmen kann – und es gerade lernt. Deshalb gibt Katharina Maier Anweisungen: "Beine strecken. Ruhig atmen. Beine schließen."

Kraulen in der Pension

Wäre Mathilda acht Jahre alt, wäre das nicht weiter auffällig. In diesem Alter, in der dritten Klasse Volksschule, lernen Kinder in Österreich nämlich schwimmen. Alle. So steht es in den Lehrplänen. Genau genommen dürfte es Mathilda hier also gar nicht geben. Denn Mathilda ist Pensionistin, davor unterrichtete sie an einer HTL. Seit sie in Pension ist, holt sie einiges nach: An der Uni studiert sie Politikwissenschaften. Im Stadthallenbad lernt sie schwimmen.

"Ich bin am Berg aufgewachsen. Wo hätte ich schwimmen sollen? Ich bin täglich zwei Stunden in die Schule gelaufen: Den Turnunterricht habe ich ausgelassen – geschwommen ist da aber eh nicht worden." Im Schwimmbad, im Urlaub ging sie eben nur knietief ins Wasser. Vor einigen Jahren ereignete sich dann im Familienumfeld ein Todesfall im Wasser: "Ein Herzinfarkt, kein Ertrinken – aber: Ich hätte nicht helfen können."

Auch deshalb ist die Pensionistin seit fünf Wochen jeden Samstag im Stadthallenbad. Bei einem Nichtschwimmer-Schwimmkurs für Erwachsene. Dabei geht es nicht um Sport, Speed oder Stil – sondern um etwas Elementares: ums Nichtertrinken. Denn, erklären ­Peter Steiner, Chef der gleichnamigen Schwimmschule, und Schwimmlehrerin Katharina Maier unisono: "Skifahren ist ein 'nice-to-have' – Schwimmen nicht: Das ist eine Überlebenstechnik. Ein Life-Skill."

(Nicht)-Schwimmer-Kurse für Erwachsene, Trainerin Kathi Maier, Stadthalle
(Nicht)-Schwimmer-Kurse für Erwachsene, Trainerin Kathi Maier, Stadthalle
Christian Fischer

Darum lernt man es in der Schule. Ist Mathilda also ein Einzelfall? Im Gegenteil: Neben und mit ihr lernen hier – aber auch in anderen Kursen – jährlich hunderte Erwachsene, wie man nicht ertrinkt. Im Stadthallenbad wäre da etwa der 17-jährige Lehrling Hussein. Schwimmen hat er "in der Volksschule, glaube ich, irgendwann gelernt". Danach war er nie wieder im Wasser. Letzten Sommer hat ihn ein Freund zum Spaß in die Neue Donau geschubst. Das wäre beinahe böse ausgegangen.

Oder die 16-jährige Schülerin Denise. Dass sie "als Kleinkind" schwimmen lernte, ändert nichts daran, dass sie vor dem Kurs "einfach untergegangen wäre", wäre sie ins Wasser gefallen. Mittlerweile kann sie – ohne in Panik zu geraten – unter- und wieder auftauchen. Und schafft es zurück ans Ufer.

Oder Patricia, angehende Flugbegleiterin: Bei der Bewerbung dachte sie sich nichts dabei, bei der Schwimmfrage zu schummeln. "Damit, dass man uns beim Notfalltraining tatsächlich ins Wasser springen lassen würde, habe ich nicht gerechnet." Sie sei nicht die Einzige gewesen, die so gedacht habe.

Oder Olivier. Er will Polizist werden. Den Helfer- oder Rettungsschwimmer kann er auch im Rahmen seiner Ausbildung machen. Aber nur, wenn er nachweislich mindestens 15 Minuten schwimmen kann. "Das hab ich vorher einfach nicht bedacht."

An diesen Beispielen stimmt alles – bis auf ein Detail: die Namen. Nicht schwimmen zu können ist denen, die es betrifft, meist peinlich. Auch deshalb gibt es dazu auch keine belastbaren Zahlen: Zwischen 200 und 250 Erwachsene, sagt Peter Steiner, würden Jahr für Jahr in seiner – Wiens größter – Schwimmschule das Nichtertrinken lernen. "Die Kurse sind immer voll." Das ist auch bei kleineren Playern so, bestätigt Sandra Swierczewska. Swierczewska leitet bei Rush, einem Sportunion-Ableger, das Schwimmdepartement. Ihre Trainerinnen bringen Jahr für Jahr gut 100 Nichtschwimmerinnen und -schwimmern die "Basics" bei. Und die, erklärt die mehrfache Staatsmeisterin über 200 Meter Brust, seien von Sportschwimmen kilometerweit entfernt: "Es geht darum, sich im Wasser auf dem Rücken und auf dem Bauch halten und vorwärtsbewegen zu können. Wasserlage plus Antrieb also – das ist Schwimmen." Neben den oben beschriebenen Personengruppen fänden sich noch zwei überproportional oft in den Kursen: angehende Pädagoginnen und Pädagogen – und Menschen (meist Frauen) mit Migrationshintergrund.

Nichtschwimmer tauchen ab

Doch obwohl die Kurse fast überall ausgebucht sind, sagen Zahlen und Zusammensetzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wenig über die fehlende Schwimmkompetenz in Österreich aus: Wer nicht schwimmen kann, kann leicht und unbemerkt untertauchen. Solange man im Badeteich nicht von der Luftmatratze rutscht, bemerkt das niemand.

Sportarten wie Skifahren sind 'nice-to-have' – Schwimmen nicht: Das ist eine Überlebenstechnik.
Sportarten wie Skifahren sind 'nice-to-have' – Schwimmen nicht: Das ist eine Überlebenstechnik.
Christian Fischer

Das bestätigt auch Elisabeth Kellner. Sie ist einerseits beim Roten Kreuz für das Rettungsschwimmwesen, andererseits für die Bildungsdirektion Wien für das Schulschwimmen zuständig. In ersterer Funktion, erzählt sie, habe sie es in den letzten Jahren immer öfter mit Polizei- und Pädagogikanwärterinnen zu tun, die nie schwimmen gelernt haben. "Manche wollen partout nicht einsehen, wieso das zu ihrem Jobprofil gehört."

Das, so Kellner, liege aber weniger an fehlendem Berufsethos als einem generellen gesellschaftlichen Verlust des Bewusstseins, dass Wasser auch Gefahrenpotenzial birgt: Habe ihre Generation („Ich bin 57“) den Sommer noch in Schwimmbädern oder an Seen verbracht, in denen "klar war, dass man dort, wo es lustig ist, schwimmen können muss", habe sich das in den letzten 20 Jahren massiv geändert: "Erlebnisbereiche" in Bädern seien kinder- und somit nichtschwimmertauglich gestaltet. Bloß verbringen Kinder ihre Wasserzeit lieber bei den "lustigen" Wasserrutschen, als mit langweiligem Längenschwimmen.

Rutschen statt schwimmen

In ihrer zweiten Funktion, als Referentin für das Schulschwimmen, dokumentiert und beklagt Kellner mittlerweile seit Jahrzehnten einen Missstand, der sich auch in Zahlen fassen lässt. Sie und ihr Team zertifizieren die Schwimmkompetenz der Volksschuldrittklässler: "Jeder Zweite ist absoluter Nichtschwimmer mit null Wassererfahrung: Fallen sie ins Wasser, gehen sie unter." Auch wenn von diesen Kindern dann mehr als die Hälfte am Ende des Schuljahres den "Frühschwimmer" (Sprung vom Beckenrand, 25 Meter schwimmen) schaffe, bleibe ein "erkleck­licher Rest, der nicht einmal das kann". In der vierten Klasse steht Schwimmen nicht mehr auf dem Plan.

Darüber, wie oft jemand, der mit acht Jahren gerade einmal den "Frühschwimm"-Pinguin schaffte, später ins Wasser geht, macht sich Kellner wenig Illusionen: Hussein und Denise, die Jugendlichen im Stadthallenbad, bestätigen ihre Ahnung. Kellners jahrzehntelange Empirie stützt die These einer auch demografisch bedingt steigenden Nichtschwimmerquote: "Die Generation, in der wir das Problem als Erstes antrafen, hat jetzt selbst Kinder: Wenn Eltern nicht schwimmen können, lernen es auch die Kinder nicht."

Zurück ins Stadthallenbad: Mathilda strahlt. Sie hat sich vom Beckenrand abge­stoßen und ist – den Blick immer auf Katharina Maier – bis zum "Nur für Schwimmer"-Bereich geschwommen. Nicht nur vor fünf Wochen wäre das undenkbar gewesen – auch die 70 Jahre davor. "Aber dann habe ich mir gedacht: Wann, wenn nicht jetzt? Und habe mich angemeldet." (Thomas Rottenberg, 31.5.2023)