Das Haus der Wildnis in Lunz am See erschließt den Urwald des Wildnisgebiets Dürrenstein-Lassingtal einer breiten Besucherschaft. Einmal im Jahr gibt es ein Fest.
Theo Kust

In einem toten Baum fängt das Leben erst richtig an. Pilze, Käfer, Wildbienen und viele andere besiedeln das abgestorbene Holz am Waldboden. Sie nutzen das Holz als Nahrung oder Unterschlupf und bilden in jedem Stamm ein eigenes Ökosystem. Mit am häufigsten sind Springschwänze anzutreffen, die zu den Recyclingbeauftragten des Waldes gehören und die feuchten Holzfasern in Humus verwandeln. Das große Geflimmer der kleinen Bewohner zieht auch andere Tiere an: Vögel kommen hierher, um die kleinen Holzbewohner aufzupicken. Höhlen in den Stämmen werden aber auch von Fledermäusen, Mardern, Eidechsen und vielen weiteren Spezies als Zuflucht aufgesucht.

Die vor sich hin modernden Holzstämme sind ein bestimmendes Merkmal von Urwäldern. Man kann sie als Werkstätten der Erneuerung betrachten, die – im wahrsten Sinne – den Boden für neues Leben bereiten. Doch an die Stelle der einstigen Wildnis sind heute Wirtschaftswälder getreten. Die Bäume werden zu Schreibtischen und Dachstühlen und dürfen nicht mehr an Ort und Stelle verrotten. Übrig bleiben Ökosysteme und Wälder, deren Biodiversität nur noch entfernt an die üppige Natur von einst erinnert.

Einmal wie ein Vogel fliegen - das geht im Haus der Wildnis mittels Virtual-Reality-Brille.
Theo Kust

Mit dem Tablet ins Totholz

Das seit 2018 bestehende Haus der Wildnis in Lunz am See, errichtet mit finanzieller Hilfe des Landes Niederösterreich und privater Unterstützer, hat sich die Ökologie der Urwälder zum Ausstellungsthema gemacht. Auch dem wichtigen Totholz ist eine eigene Station gewidmet. Das Leben in den abgestorbenen Stämmen wird hier aber nicht nur in einem Terrarium veranschaulicht und durch Tafeln und Audioguides erklärt. Man kann auch das Tablet zücken und mithilfe von Augmented-Reality-Visualisierung den echten Baumstamm auf digitale Weise in den Ausstellungsraum verlängern. Durch den Bildschirm blickt man hinein in das vielfältige, sonst unsichtbare Gewusel der kleinen Insekten.

Andere Stationen lassen Urwaldszenen mittels Virtual-Reality-Brille vor Augen treten, den Einfluss des Klimawandels auf die Ökologie des nahegelegenen Lunzer Sees erfahren oder informieren mittels interaktiver Landschaftsmodelle über die langfristige Entstehung des Naturwaldes, zählt Ramona Schmidt auf. Sie leitet die Lunzer Einrichtung, die am kommenden Samstag, dem 3. Juni, zu einem Fest der Wildnis mit zahlreichen Bildungs- und Unterhaltungsangeboten lädt.

Im Haus der Natur gibt es viele Tiere zu entdecken.
Theo Kust

Das Haus der Wildnis entstand, weil nicht weit von Lunz eines der letzten Wildnisgebiete Europas liegt – ein Urwaldrest, der seit der letzten Eiszeit nahezu unberührt blieb. Der früher Rothwald genannte, 400 Hektar große Urwald wurde zum Naturreservat, das in das mittlerweile bis in die Steiermark erweiterte, 7000 Hektar große Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal eingebettet ist. Es ist als IUCN-Schutzgebiet der Kategorie I ausgewiesen und das erste Unesco-Weltnaturerbe Österreichs. Der rare Charakter des Naturjuwels bringt die Wildnisgebietbetreiber in eine paradoxe Situation: Denn der hohe Wert und die damit einhergehende strenge Reglementierung bedeuten auch, dass man den Zugang schützen muss, um die unberührte Natur nicht zu stören. Es gibt zwar Führungen in das Wildnisgebiet, aber die Zahl ist sehr beschränkt. Natürlich möchte man das Naturjuwel dennoch Besuchern präsentieren – was nun in digital unterstützter Form im Haus der Wildnis passiert.

Emotionale Ebene

"Wir wollten keinen Trostpreis schaffen, indem wir in einem Abenteuerpark die unberührte Natur nachbilden", sagt Schmidt über die Konzeption der 2021 eröffneten Institution. "Wir möchten die Menschen auf einer emotionalen Ebene berühren. Wir machen mithilfe der Technik Dinge erlebbar, die man draußen in der echten Wildnis nicht wahrnehmen würde." Die Besucher sollen eine Exkursion tief in das ökologische Wissen über Naturwälder machen. Diverse Bildungsangebote wie Workshops und Exkursionen richten sich zudem an Schulkinder jeglichen Alters.

Neben Schutz und Bildung wird der Forschung im Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal ein hoher Stellenwert eingeräumt. Seit Jahren läuft etwa ein Projekt zur Wiederansiedelung des Habichtskauzes, das mit der Wiener Boku und der Veterinärmedizinischen Universität Wien durchgeführt wird. Die Eulenart ist selten geworden, weil sie auf die Baumhöhlen in alten und abgestorbenen Hölzern als Rückzugsgebiet angewiesen ist.

Diverse Bildungsangebote lassen Schüler und Schülerinnen die Urwaldökologie mit wissenschaftlichen Mitteln erkunden.
imago images/Elmar Gubisch

Virtuelle Vogelperspektive

"Einst war der Habichtskauz hier ausgestorben. Mittlerweile haben wir wieder 20 Brutpaare", sagt Schmidt. Das Tier übernimmt auch im Haus der Wildnis eine prominente Rolle: Mittels Virtual-Reality-Brille kann ein Flug aus der Perspektive des Tieres über das Wildnisgebiet erlebt werden.

Ein neueres Forschungsprojekt sucht jene Käfer auf, die das Totholz bewohnen. Mit dem Nationalpark Donau-Auen, dem Nationalpark Thayatal und dem Biosphärenpark Wienerwald werden sogenannte xylobionte Käfer, die das abgestorbene Holz bewohnen, unter die Lupe genommen. Das Projekt wird auch beim Fachsymposium am Freitag, das dem Fest der Wildnis vorausgeht, ein Thema sein.

Notwendiges Monitoring

"Ein gezieltes und umfassendes Monitoring soll den Ist-Zustand erheben", sagt Schmidt. Die Erfassung von Bock-, Hirsch-, Plattkäfern und Co ist dabei gar nicht so einfach. Die verschiedenen Arten haben sich alle an die Holznutzung angepasst, was etwa ihre Larven sehr ähnlich macht. Gleichzeitig erschweren geringe Populationsdichten mancher Spezies ihren Nachweis. Spannend wird natürlich sein, wie sich die Zusammensetzung der Populationen in den Urwaldgebieten von anderen, stärker von Menschen geprägten Naturräumen unterscheidet – immerhin haben die Käfer hier Totholz in Hülle und Fülle. (Alois Pumhösel, 1.6.2023)