Meter für Meter beißt sich Lilia durch den Fels. Lilia ist eine Tunnelbohrmaschine, 2400 Tonnen schwer und zwei Fußballfelder lang. Ihre Montage vor Ort hat drei Monate gedauert. Dort, bis zu 1720 Meter unter Tiroler Boden, zwischen Innsbruck und dem Südtiroler Ort Franzensfeste, entsteht gerade die längste unterirdische Eisenbahnverbindung der Welt: der Brenner-Basistunnel (BBT).

Die Tunnelbohrmaschine Ida wird Mitte Juni andrehen. Sie wird aktuell zusammengebaut.
Florian Scheible

Die Erwartungen an die Röhre, in der Personen, aber vor allem Güter transportiert werden sollen, sind enorm. Knapp 2,5 Millionen Lkws donnerten laut dem Autobahnbetreiber Asfinag im Jahr 2022 über den Brenner. "Der BBT ist sicherlich das Herzstück auf unserem gemeinsamen Weg hin zu einer effektiven Verkehrsverlagerung und damit zur Verkehrsentlastung für die Bevölkerung am gesamten Brennerkorridor", heißt es auf Anfrage aus dem Büro des Tiroler Verkehrslandesrats René Zumtobel (SPÖ).

Ein Arbeiter bedient einen Greifarm, der über einem Tunnelbauteil schwebt
Die Tunnelbauteile, Tübbinge genannt, werden unweit des Tunnels auf einer Deponie hergestellt und von dort direkt in den Tunnel verfrachtet.
Florian Scheible

Die Autofahrt durch den Stollen dauert über zehn Minuten. Lilia ist nur von weitem zu erkennen. Einige Meter daneben, in der parallel verlaufenden Tunnelröhre, wird ihre Zwillingsschwester Ida gerade zusammengebaut. Die beiden schaffen in den nächsten Jahren Platz für zehntausende Tunnelbauteile, sogenannte Tübbinge. Diese werden "zentimetergenau in die Tunnelröhre eingebaut", erklärt Romed Insam. Er wirkt zierlich, wie er da steht, im Schatten von Ida, und über den Baufortschritt spricht. Insam trägt schwere Stiefel und Helm, seine neongelbe Arbeitskleidung leuchtet im schummrig-grünlichen Licht.

Ein Mann in Arbeitskleidung steht vor Rohren
Romed Insam ist Projektleiter des Baulos H41 Sillschlucht-Pfons.
Florian Scheible

"Eine solche Tunnelbohrmaschine ist eine fahrende Fabrik", sagt Insam. Durchschnittlich zwölf bis 13 Meter weit kommt sie an einem Tag. Dabei dreht sich ihr Bohrkopf, während sie sich immer weiter ins Gestein presst und dabei die Röhre mit den Tübbingen auskleidet.

Es riecht nach Staub und Leberkäse

Es ist stickig, warm und laut, an diesem Montag im Mai, viele Hunderte Meter unter der Erde. Und es riecht nach Staub und Leberkäse. Die Arbeiter machen gerade Mittagspause. "Hier unten verliert man das Gefühl für die Zeit", kommentiert Insam. Als Projektleiter des Baulos H41 Sillschlucht-Pfons verbringt auch er viel Zeit unter der Erde.

Zwei Männer in Arbeitskleidung sitzen am Boden und essen zu Mittag.
Zwei Arbeiter machen Mittagspause. Das Zusammenbauen der Tunnelbohrmaschine Ida nimmt in etwa drei Monate in Anspruch.
Florian Scheible

158 von 230 Kilometern Tunnel sind geschafft

Insgesamt misst das Tunnelsystem 230 Kilometer. Davon wurden bereits 158 Kilometer vorangetrieben: 61 Kilometer Haupttunnel, 55 Kilometer Erkundungsstollen und 42 Kilometer Zufahrts-, Rettungs- und Logistiktunnel. Dabei fallen enorme Mengen an Aushubmaterial an. Rund 20 Millionen Kubikmeter, präzisiert Insam. An die 7,7 Millionen Kubikmeter werden vorwiegend untertägig über Förderbänder in das bei Steinach am Brenner abzweigende Padastertal verfrachtet. Auf einer Länge von eineinhalb Kilometern entsteht hier eine Deponie. Bis zu 80 Meter hoch werden sich Quarzphyllit, Bündnerschiefer und Zentralgneis türmen. Die Oberfläche werde dann neu gestaltet und bepflanzt.

Eine Tunnelröhre in schummrig grünem Licht.
Die Dimensionen des Brenner-Basistunnels sind schwer zu fassen. Insgesamt misst das Tunnelsystem 230 Kilometer.
Florian Scheible

Die erste Tunnelbohrmaschine in dem vorherigen Baulos hieß Günther, benannt nach dem damaligen Landeshauptmann Günther Platter. Günther war im Erkundungsstollen unterwegs. Dieser verläuft unterhalb zwischen den zwei Haupttunnelröhren. "Eine Besonderheit des Brenner-Basistunnels", erklärt der Geophysiker Christian Schwarz, während er die provisorische Wendeltreppe zu ebendiesem Stollen hinabsteigt. Die Vortriebsarbeiten im Erkundungsstollen hätten Aufschluss über die Beschaffenheit des Gebirges geliefert. Aktuell dient der Erkundungsstollen unter anderem dem Abtransport des Aushubmaterials.

Blick aus der Windschutzscheibe eines Autos, vor einem liegt ein Tunnel.
Auf der Fahrt durch den Brenner-Basistunnel bekommt man ein Gefühl für die Dimension dieses Großprojekts.
Florian Scheible

Erste Machbarkeitsstudien für das Megaprojekt wurden bereits 1989 durchgeführt, der symbolische Spatenstich erfolgte 2006. Zu Beginn gingen die Verantwortlichen von einer Inbetriebnahme im Jahr 2022 aus. Doch es kam zu massiven Verzögerungen. Die ersten Züge werden wohl frühestens 2032 durch den Tunnel brettern.

Noch nicht wirklich auf Schiene

"Die Verzögerungen haben auch mit der Komplexität des Projekts zu tun", sagt Andrea Lussu, der den Bereich Planung beim BBT leitet. Die "überstaatliche Dimension" habe man "damals unterschätzt". Lussu bezieht sich auf Genehmigungen, Abstimmungen, Auftragsvergaben. Beim BBT müssen die Systeme erstmals grenzübergreifend funktionieren, daher sind nicht nur in den beiden Staaten, Österreich und Italien, die geltenden Normen zu erfüllen, sondern auch auf EU-Ebene.

Ein Mann in Arbeitskleidung geht an einer betonierten Wand vorbei.
Auch überirdisch wird gebaut, hier eine Szene aus der Sillschlucht bei Innsbruck.
Florian Scheible

Auf dem Plan, der die Wände von Lussus Büro in Innsbruck ziert, erkennt man eine weitere Ausprägung dieser überstaatlichen Dimension. Sie hat die Form einer Brezel und liegt etwa 200 Meter unter der Gemeinde Patsch. Dort überlappen sich mehrere Tunnelröhren – denn in Italien gilt für die Eisenbahn Links-, in Österreich Rechtsverkehr. EU-weit bestehen noch immer gravierende Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Bahnsystemen.

Ein Mann mit Brille in Poloshirt sitzt in seinem Büro.
Andrea Lusso leitet den Bereich Planung bei der Errichtungsgesellschaft BBT SE. Er rechtfertigt die massiven Verzögerungen des Großprojekts.
Florian Scheible

Mit ein Grund, warum der Gütertransport auf der Schiene seit Jahren stagniert, sagen Experten. Gleichzeitig sind immer mehr Lkws auf den Straßen unterwegs. Mit dem BBT soll die Verlagerung des Verkehrs attraktiver werden. Laut einer Studie der Brenner Corridor Platform (BCP) ist zum Zeitpunkt der Eröffnung des Brenner-Basistunnels mit Steigerungen zwischen 53 und 95 Prozent im Schienengüterverkehr zu rechnen. Die Prognose für das Jahr 2040 lässt gar einen möglichen Zuwachs von bis zu 215 Prozent erkennen.

"Als Flachbahn wird der BBT im Gegensatz zur aktuell bestehenden Gebirgsbahn natürlich eine Verbesserung mit sich bringen", bestätigt Markus Mailer, Professor für Verkehrsplanung und Leiter des Arbeitsbereichs Intelligente Verkehrssysteme an der Uni Innsbruck. Schwere, lange Güterzüge bis zu 2000 Tonnen können im BBT mit nur einer Lok abgewickelt werden – durch die Steigung auf der überirdischen Bestandsstrecke waren bisher zwei bis drei Loks nötig.

Der BBT ist in Konkurrenz zur Straße zu sehen

"Allerdings ist der BBT nicht nur im Verhältnis zum bestehenden Schienennetz, sondern auch in Konkurrenz zur Straße zu sehen", setzt Mailer fort. Was er damit meint: Im Güterverkehr sind die Kosten der ausschlaggebende Faktor. Die Brennerautobahn ist besonders billig. "Man wird mit Rahmenbedingungen dafür sorgen müssen, dass der BBT voll verkehrswirksam wird. Der Güterverkehr auf der Straße muss verteuert werden, sodass er seine eigentlichen Kosten auch trägt."

Blick in eine düstere Tunnelröhre mit Neonleisten.
Verkehrswirksam wird der Brenner-Basistunnel wohl nur, wenn die Straße gleichzeitig teurer wird, sagt ein Experte für Verkehrsplanung.
Florian Scheible

Das weiß auch Verkehrslandesrat Zumtobel und verweist auf seine Forderungen nach einer Korridormaut zwischen München und Verona und einem Slot-System. Vorbild der Bemühungen sei die Schweiz, wo 70 Prozent des Güterverkehrs über die Schiene sausen. (Maria Retter, 8.6.2023)