Verzicht
Nichts im Wagerl: Wir reden ungern über Verzicht, weil wir ihn mit leeren Regalen in Verbindung bringen.
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Vorletzte Woche stieß ich in meinem Rucksack zufällig auf ein verstecktes Fach, in dem ich eine Zeitlang Zeitungsausschnitte, die mir interessant vorgekommen waren, gesammelt hatte, welches ich irgendwann aber komplett vergessen hatte. Nun zog ich teils jahrzehntealte Artikel heraus. Ich bekam die verschlissene Seite einer Münchener Tageszeitung aus dem Jahr 2013 in die Hand, auf der ich las, den Menschen müsse dieser Tage wohl eine Art schlechtes Gewissen befallen haben, denn er könne kaum noch einen Satz äußern, in dem nicht die Blödvokabel "nachhaltig" vorkomme.

Andere Welt

Der launige Artikel kam zu dem Schluss, dass die Natur unseres Planeten inzwischen endgültig die Nase voll von uns habe. Es war kein ausgesprochen visionärer Text in keinem hochtrabend intellektuellen Blatt. Doch er erinnerte mich daran, dass wir es vor genau zehn Jahren mit bereits genau demselben Problem zu tun hatten wie heute. Dass wir in den vergangenen zehn Jahren um nichts weitergekommen sind. Schon damals wurde Klimaschutz, Naturschutz statt ernsthaft betrieben in einem Maße geheuchelt, das nicht zu ertragen war.

Zehn Jahre, das klingt lange her. War das damals nicht eine ganz andere Welt? Zwar hatte das Smartphone bereits seit einigen Jahren damit begonnen, das Leben der Menschen, ihre Teilhabe an der Gesellschaft, ihr Interesse füreinander von Grund auf zu verändern. Erste soziale Medien wie Facebook existierten bereits. Doch die Rechtspopulisten und künstlichen Intelligenzen hatten ihre Spaltkeile noch nicht so tief in die Bevölkerung eingeschlagen. Donald Trump war noch ein Privatunternehmer und Showstar, nicht Präsident der Vereinigten Staaten. Noch redete er, anstatt zu twittern.

Hedonistischer als je zuvor

Sebastian Kurz war ein 26-jähriger Wiener Gemeindepolitiker, noch hatte er kein Außenministeramt übernehmen, geschweige denn sich bis zum Bundeskanzler hochintrigieren können. Der Bürgerkrieg in Syrien war 2013 zwar schon ausgebrochen gewesen, noch aber hatten die Migrationswellen nicht Mitteleuropa erreicht. Auch gab es noch praktisch keine Klimaflüchtlinge, dafür offene Klimaleugner, Politiker und Bürgerinnen, die nicht an ihre Mitschuld am Klimawandel glaubten, obwohl die Wissenschaft bereits seit über drei Jahrzehnten darauf hinwies.

Trotz alledem war 2013 bereits das grüne Heucheln in Mode gekommen. Es wird heute Greenwashing genannt, stellt in sich eine Form der Umweltzerstörung dar und wird von so gut wie jedem Unternehmen, jeder Marketingabteilung dreist betrieben. Offen in die Kamera, ins Mikrofon, von Plakatwänden herunter oder in den sozialen Medien zu lügen war 2013, bilde ich mir ein, noch nicht derart normal und scheinbar legitim wie heute.

Fehlender Fortschritt

Eigentlich müssten wir uns heute zivilisatorisch doch viel weiter vom Jahr 2013 fortentwickelt haben, als es der Fall scheint. Nicht nur haben wir diverse technische Fortschritte, sondern auch eine entscheidende Erfahrung gemacht: die Corona-Pandemie. Ohne Vorwarnung fiel sie über uns her, ein Einschnitt, eine Zäsur, so gewaltig, so unverhofft, dass wir sie als das hatten begreifen müssen, was sie war: die größte und womöglich letzte Chance, von unserem Kamikaze-Kurs abzurücken. Mit einem Mal wurde der hyperventilierenden, an ihren Konsumexzessen erstickenden Gesellschaft ein kalter Entzug verordnet. Zum ersten Mal seit der Industrialisierung sank der CO2-Ausstoß und entwickelte sich in jene Richtung, in die er sich entwickeln muss, wollen wir als Menschheit überleben. Über einige Monate hinweg zumindest.

Corona war neben all dem Unheil und den Schrecken, die es verbreitete, ein gewaltiges Lernfenster. Doch mittlerweile hat sich dieses wieder geschlossen. Im Rückblick muss anerkannt werden, dass wir als Gesellschaft die Lektion nicht annahmen. Corona jagte uns Angst ein, nicht nur weil es sich um ein bislang unbekanntes, unheimliches, potenziell todbringendes Virus handelte, sondern weil es uns mit einer neuen Lebensgestaltung konfrontierte, uns zwang, alte Gewohnheiten abzulegen. Das Leben im Überfluss, das wir uns in immer zunehmendem Maße angeeignet hatten, wurde kurzfristig durch neue Parameter ersetzt: Entschleunigung, Zurückgezogenheit, Rücksichtnahme, Genügsamkeit. Statt Lärms herrschte plötzlich Stille. Statt eines Zuviels ein Zuwenig. Drei Jahre lang ließ die Pandemie nicht locker. Auch dem stursten Realitätsverweigerer wurde genügend Zeit zur Einsicht gegeben, dass wir unser Konsumverhalten grundlegend, sofort und radikal zu ändern hatten. Doch wir weigerten uns aufzuwachen. Wir saßen die Pandemie einfach aus, immer ungeduldiger werdend, bis das Leben im alten Stil wieder losgehen durfte. Anstatt den Verzicht, der uns aufgezwungen wurde, in ein Leben nach/mit dem Virus einfließen zu lassen, entschieden wir uns, sobald die Politik sich dazu gezwungen sah, die Zügel locker zu lassen, uns so schnell wie möglich wieder in die alten Muster fallenzulassen.

Verlorene Zeit nachholen

Von Pandemiejahr zu Pandemiejahr war die Corona-Zeit statt veränderungsverheißend nur noch nervtötend und anstrengend geworden. Dann hatten alle die Schnauze voll davon und brachen nicht in eine neue Zeit auf, sondern in die altbekannte, hektischer, hysterischer, hedonistischer als je zuvor. Nun will nachgeholt werden, was viele als "verlorene Zeit" begriffen haben. Hemmungslos wird erneut dem kapitalistischen Diktat gefolgt. Weder in der Politik noch in der breiten Masse ist ein Sinneswandel zu erkennen. Dass wir direkt aus der Pandemie in Putins neuen Krieg, in neue Turbulenzen der Finanzmärkte und Inflation stürzten, macht sich in unserem allgemeinen Verhalten ähnlich wenig bemerkbar wie die sich immer deutlicher manifestierenden Auswirkungen der Klimakatastrophe.

Der Turbokapitalismus, den wir in unserer Fantasielosigkeit durch kein anderes Wirtschaftssystem zu ersetzen oder einzudämmen wissen, bediente sich schneller als alles andere eines durch diverse klimaaktivistische Gruppierungen durchaus in die Mitte der Gesellschaft hineingetragenen Bewusstseins. Wir alle wissen, wie es um die Welt steht. Als Konsequenz wird nun ausnahmslos alles mit einem grünen Etikett versehen, tiefergehender Wandel aber untersagt. Das ist kein Wunder. Kapitalismus und Klimaschutz widersprechen sich nun einmal. Wachstumszwang in immer rasenderer Geschwindigkeit ist mit seinem Gegenteil, dem Herunterfahren, Gesundschrumpfen, nicht vereinbar. Profitgier geht mit freiwilligem Verzicht nicht zusammen.

Hans Platzgumer
Hans Platzgumer, geb. 1969, ist Musiker und Schriftsteller. Ende August erscheint sein neuer Roman "Großes Spiel" (Zsolnay).
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Grüne Logos und Tuner-Cars

An diesem Punkt sind wir heute angekommen. Das McDonald’s-Logo ist grün wie das der Airlines und Autobauer. Die einen reden von "grünen Verbrennern", die anderen von "Klimaglück". Die einen versuchen sich erneut im lukrativen Handel mit CO2-Zertifikaten, sie kombinieren die Traditionen sowohl des Katholizis- als auch des Kapitalismus, demnach sich Klimasünder von ihren Sünden freikaufen und die Absolution erhalten, nach Belieben Treibhausgase auszustoßen, solange sie es sich leisten können. Die Nächsten, eine stetig wachsende Gruppe von leicht instrumentalisierbaren Wutbürgern, verlieren die Geduld mit jeglichem Gerede über den Klimawandel und rufen sich ein anderes altbekanntes Motto ins Gedächtnis: Jetzt erst recht! Wir lassen uns den Spaß nicht nehmen! Sie kleben Fuck-You-Greta-Sticker auf die Stoßstangen ihrer Tuner-Cars und rasen auf den inzwischen wieder rappelvollen Autobahnen an den Elektro-SUVs der Elite vorbei.

Dieser überprivilegierte Gesellschaftsteil wiederum scheint zu meinen, dass ein Elektroantrieb den Gebrauch immer größerer, schwererer Fahrzeuge legitimiert. Eines haben sie alle gemein, die heuchelnden Politikerinnen wie die selbstgefällige Ober- oder die von skrupellosen Populisten getriebene Unterschicht: Sie machen es sich viel zu einfach. Sie wählen den Weg, der ihnen nicht wehtut, gehen keinen Schritt darüber hinaus. Sie nehmen das ihnen Naheliegendste und geben sich damit zufrieden.

Warum alles beim Alten bleibt

Nur so ist erklärbar, warum entgegen aller Dringlichkeit alles beim Alten bleibt. An einem Punkt der Zivilisation angekommen, an dem die Welt radikal neu gedacht werden müsste, weil Kipppunkte erreicht werden, die unumkehrbare Konsequenzen nach sich ziehen, begnügt sich die Menschheit mit höchstens kosmetischen Maßnahmen und Alibihandlungen. So sehr die Zeit drängt, die Politik schafft es nicht einmal, sich auf die Senkung des Tempolimits, auf das Ende des ungehemmt voranschreitenden Flächenfraßes oder auf ein noch in Corona-Tagen versprochenes Verbot von Kurzstreckenflügen zu einigen.

Warum sind wir so handlungsunfähig? Corona hat doch gezeigt, was möglich wäre, wenn es ernst wird. Ist die Bedrohung unserer Existenz durch den Klimawandel nicht akut genug? Die Antwort liegt in der schieren Panik, die das Wort "Verzicht" vielen von uns und vor allem den um Wählerstimmen buhlenden Politiker einjagt. Sie nahmen es höchstens in Verbindung mit Putins Gaslieferungen eine Weile lang in den Mund, weil so der scheinbar negative Beigeschmack nicht an ihnen hängen blieb. In Wahrheit aber hat Verzicht nichts mit Wohlstands- oder Glücksverlust zu tun. Das ist ein infantiles, unreifes Denken, wenn ich meine, ein zufriedenes Dasein hat mit materiellem Exzess einherzugehen. Im Laufe eines halbwegs reflektierten Erwachsenenlebens erfährt jeder und jede, dass über die Grundbedürfnisse und Menschenrechte hinausgehend alles, was wirklich im Leben zählt, alles, was von Belang ist, direkt mit Verzicht verbunden ist. Liebe, Freundschaft, Eltern zu werden, einen gesunden Körper zu besitzen und zu erhalten, jeglicher Erfolg im Berufs- wie im Privatleben geht Hand in Hand mit Verzicht.

Rentables Tauschgeschäft

Immer ist es so: Ich muss etwas abgeben, um Wichtigeres zu bekommen. Ich muss dazu bereit sein, meine Freiheit einzuschränken, um sie wertschätzen zu können. Meine Daseinsfreiheit kann nicht darin verstanden werden, dass ich jederzeit alles haben und tun kann, was mir beliebt. Ich muss sie darin begreifen, dass ich Angebote abzulehnen imstande bin.

Freiwilliges Verzichten ist Ausdruck größtmöglicher Freiheit. Ich löse mich von einem Druck, von inneren wie äußeren Zwängen, Dinge besitzen, Dinge tun zu müssen. Ich werde frei, indem ich mir des eigenen Handelns bewusst werde. Ich sage Nein, erkenne Unnötiges als Unnötiges, Falsches als Falsches, Vermeidbares als Vermeidbares an. Mehr noch als Sisyphos, den wir uns laut Camus als glücklichen Menschen vorzustellen haben, erreiche ich Erfüllung, denn nicht nur erschaffe ich eigenen Sinn innerhalb übergeordneter Sinnlosigkeit, auch habe ich – im Gegensatz zu Sisyphos – jede Menge Auswahlmöglichkeiten. Mir steht nicht nur der immer gleiche Fels zur Verfügung, ich kann auf ein Überangebot an Aufgaben zurückgreifen und es durch selbstdefinierte Auswahlkriterien eingrenzen.

Abstriche machen

So sitze ich also inmitten einer rasenden Welt still, weil ich es so entscheide, und lasse die auf mich niedergehenden Manipulationsversuche an mir abperlen. Unterwerfe ich mein Dasein so etwas wie einem ökologischen Fußabtritt, akzeptiere ich, dass ich, will ich an einer bestimmten Stelle über das genügende Maß hinausgehen, an einer anderen Stelle Abstriche machen muss. Erst dadurch wird dieser Luxus, den ich mir erlaube, als Luxus erkennbar. Erst Kompromisse und Einschränkungen lassen mich mein Glück erfahren. Ich könnte drei Mal im Jahr nach Mallorca fliegen, tue ich es aber nur einmal alle drei Jahre, weiß ich es erst zu schätzen. Ich könnte dreimal täglich Fleisch essen, genieße es aber nur unter ausgesuchten Umständen, dann umso mehr. Der Laptop, auf dem ich diese Zeilen tippe, funktioniert schon lange nicht mehr, wie er soll, aber ich werde erst einen neuen gebrauchten erwerben, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt. Gleich verfahre ich mit allen Gebrauchsgegenständen. Erst wenn die geplante Obsoleszenz, die von der Politik längst verboten sein müsste, mich dazu zwingt, tausche ich sie aus. Ich bin frei. Die Möglichkeit des Verzichts, von der ich ständig Gebrauch mache, beweist es. Sie müssen sich Hans Platzgumer als glücklichen Menschen vorstellen. Genügsamkeit ist nicht Selbstkasteiung, sondern Genussfähigkeit. Ich schätze die Kulturgüter, die Lebensmittel, die Unterkunft, die ich zum Leben brauche, und ich weiß, dass Überfluss Zerstörung bedeutet. Nennen wir es Ausstieg light. Ich arbeite daran, diesen Ausstieg jederzeit zu verschärfen.

Weniger ist mehr

Dass in weniger mehr liegt, ist eine so banale Weisheit, dass es absurd anmutet, sie praktisch nur hinter vorgehaltener Hand aussprechen zu dürfen. Doch das kapitalistische Korsett, in das wir uns eingepfercht haben, erlaubt die Reduktion nicht. Neben seinen esoterischen und philosophischen Aspekten hat der freiwillige Verzicht somit auch eine politische Komponente. In einem System, das auf dem Prinzip ständig wachsenden Konsums und sich immerzu steigernder Produktion beruht, einem System, das nur ein Mehr erlaubt und das Weniger verbietet, ist Verzichten passiver Widerstand. Verweigerungshaltung. Ich verweigere meine Teilhabe an einem System, das mich und den Planeten vernichtet. Verzicht ist eine subversive Haltung, staatsgefährdend, solange der Staat nur wirtschaftliche Interessen verfolgt. Ich deute "Wohlstand" als etwas anderes, als er im System gesehen wird. Ich erkläre ihn als etwas Immaterielles, nicht als Besitzanhäufung von Gütern, die über meine eigentlichen Bedürfnisse hinausgehen. Aus kapitalistischer Sicht bin ich ein Worst-Case-Szenario. Anstatt möglichst ausgiebig zu konsumieren, versuche ich minimalistisch zu leben. Würden allzu viele ähnlich verfahren, würde das System, sofern es sich nicht durch Maßnahmen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen oder Ähnliches darauf vorbereitet, in sich zusammenbrechen. Wie die Armee hemmungslose Soldaten braucht, braucht das vorherrschende Ordnungssystem hemmungslose Konsumenten. Durch Inaktivität könnten wir in Summe seinen Zusammenbruch herbeiführen. Und dann? Wäre einfach alles aus? Ist der Kapitalismus in seiner heutigen Form wirklich die letzte aller Wahrheiten? Oder würde vielleicht etwas Neues erstehen, etwas, auf das wir schon lange warten, so lange schon, dass unsere Vorstellungskraft geschwunden ist?

Was da auf uns zukommen mag, jagt uns Angst ein. Es liegt auf der Hand, dass die Transformation keine einfache sein würde. Ohne unterstützende Vorkehrungen würde sie ein langwieriger, grausamer Prozess sein, voller Unruhen, Leid, Gewalt. Deshalb reden wir so ungern über Verzicht. Wir bringen ihn mit Unheil in Verbindung, mit Verlust, mit leeren Regalen. Doch was ist die Alternative? Auch sie geht mit Unheil einher, mit gewalttätigen Konflikten, mit Kriegen, Flucht und Ausgrenzung, mit Naturkatastrophen ungekannten Ausmaßes. Entscheiden wir uns für den dem Verzicht entgegengesetzten Weg, halten wir weiter an maximalem Konsum fest, dann bricht nicht unser System, sondern unsere Welt auseinander. Auf diesem Pfad befinden wir uns. Nach Corona-bedingter Pause haben wir wieder Fahrt aufgenommen, rasen auf die Wand zu. Und doch befinden sich viele von uns heute noch in der privilegierten Position, die freie Wahl zu haben: Entweder ändern wir unser Verhalten bei der Zerstörung der Welt, oder fahren wir fort mit der Zerstörung. Es ist unsere Entscheidung. Zeit dafür bleibt uns nicht mehr. Ein weiteres Aufschieben ist nicht erlaubt, und auf fortgeführtes Heucheln steht die Höchststrafe. (Hans Platzgumer, 3.6.2023)