Österreich ist im internationalen Vergleich ein Hochsteuerland, und Steuererhöhungen gelten in der politischen Diskussion entsprechend als Tabu. Die ÖVP führt ganze Wahlkämpfe mit dem Slogan, dass sie gegen jegliche neuen Steuern und Abgaben ist, und auch SPÖ, FPÖ, Grüne und Neos glauben zu wissen, dass mit höheren Belastungen von Bürgerinnen und Bürgern nur schwer politische Meter zu machen sind.

Ja, Österreich hat gerade erst eine Besteuerung der Emissionen beim Sprit und beim Heizen eingeführt. Aber diese Abgabe wird über den Klimabonus an alle Haushalte zurückgegeben, ja sogar deutlich überkompensiert. Dabei kann es natürlich trotzdem sein, dass in einer akuten Phase oder Krise höhere Steuern Sinn machen können: etwa um Investitionen in den Klimaschutz auch bei stark steigenden Zinsen finanzieren zu können oder um überschüssige Kaufkraft aus der Wirtschaft abzusaugen und damit den Kampf gegen die Inflation zu verschärfen. Nur scheint dieser Weg in Österreich verbaut zu sein. Aber was, wenn nicht?

Was, wenn sich Steuern de facto erhöhen ließen, um dem Staat neues Geld zu verschaffen, ohne sie wirklich erhöhen zu müssen? Und was, wenn diese unechte Steuererhöhung sogar sozial relativ treffsicher wäre, weil sie Besserverdiener stärker belasten würde? So ein magischer Trick erscheint möglich, und in diese Richtung geht ein Vorschlag des künftigen IHS-Chefs Holger Bonin. In einem STANDARD-Interview plädierte Bonin diese Woche dafür, intensiv darüber nachzudenken, ob man die Abschaffung der kalten Progression für Besserverdiener nicht befristet aussetzen wolle. Die Idee dafür stammt ursprünglich vom deutschen Sachverständigenrat, dem Expertengremium, das die Regierung in Berlin berät.

Hinter dem sperrigen Begriff der kalten Progression verbergen sich automatische Steuererhöhungen. Diese treffen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn ihre Löhne im Zuge der Inflationsanpassung steigen und sie dadurch mit einem größeren Teil ihres Einkommens in eine höhere Steuerklasse rutschen. Dadurch steigt die gesamte steuerliche Belastung des Verdienstes. Sofern mit dem Lohnplus nur die Inflation abgegolten wird, steht der höheren Steuer aber keine höhere Kaufkraft gegenüber.

Im vergangenen Jahr haben sich Grüne und ÖVP überraschend darauf verständigt, die kalte Progression in Österreich ab 2023 abzuschaffen. Die Tarifstufengrenzen steigen seither mit der Inflation. In gut einem Monat werden die Expertinnen und Experten der Forschungsinstitute Wifo und IHS für 2024 zu rechnen beginnen: Die Inflationsrate von Juli 2022 bis Juni 2023 ist nämlich maßgeblich dafür, wie sehr die Tarifstufen 2024 angepasst werden.

Zwei Fliegen mit einer Klappe

Bonins Idee folgt einer doppelten Logik: Im Zuge der Entlastungsmaßnahmen als Folge der hohen Inflation hat der Staat in Österreich viel Geld mit der Gießkanne verteilt. Dadurch seien hunderte Millionen Euro bei Menschen gelandet, die diese Unterstützung gar nicht brauchten, so Bonin. Für Besserverdiener die kalte Progression eine Zeitlang wirken zu lassen sei die "mildeste" Form, das wieder auszugleichen. So könnten die höheren Steuertarife 2024 zum Beispiel nicht mit der Inflation steigen. Das würde aber auch Kaufkraft bei Reichen abschöpfen und könnte damit dämpfend auf die Inflation wirken.

Tatsächlich ist die Abschaffung der kalten Progression eine Maßnahme, die besonders Beziehern hoher Einkommen zugutekommt, weil diese natürlich am meisten Steuern zahlen – absolut betrachtet. So gewinnt das Fünftel mit den höchsten Einkommen heuer etwas mehr als 450 Euro durch das Ende der automatischen Steuererhöhungen. Beim einkommensschwächsten Fünftel sind es bloß um die 70 Euro, wie das arbeitnehmernahe Momentum-Institut vorgerechnet hat. Was sagen andere Expertinnen und Experten dazu, die kalte Progression vorübergehend wieder wirken zu lassen?

Felbermayr: Nicht mit verdecktem Visier kämpfen

Der Chef des Forschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, ist klar dagegen: "Die Abschaffung der kalten Progression ist ein Meilenstein in der österreichischen Fiskalpolitik. Man kann darüber streiten, ob der Zeitpunkt ideal gewählt war, aber es wurde ein Vorhaben umgesetzt, dass 30 Jahre lang versprochen wurde. Das Steuersystem ist dadurch besser geworden: gerechter und effizienter." Auch wirtschaftspolitisch sei an der kalten Progression nichts gut: Sie bringe in unregelmäßigen Intervallen "große" Steuerreformen hervor, die die Belastung punktuell absenken, um sie dann in den nächsten Jahren wieder klammheimlich ansteigen zu lassen. Die Bürger können so nicht auf die Konstanz der realen Steuerbelastung vertrauen.

Debatte um Progression
Wifo-Chef Felbermayr will die kalte Progression nicht wieder einführen.
APA/ALEX HALADA

Und er verweist auf einen weiteren Punkt: Ein Drittel des Entlastungsvolumens durch den Ausgleich der kalten Progression kann in Österreich politisch diskretionär vergeben werden. So ist es im Gesetz geregelt. "Das ist gut so, und damit lassen sich niedrige Einkommen stärker entlasten." Und wenn schon, dann solle über echte Steuererhöhungen politisch diskutiert werden und nicht über den Umweg, die hohe Inflation wirken zu lassen: "Wer darüber hinaus einen Teuerungs-Soli will, aus verteilungspolitischen oder stabilitätspolitischen Gründen, soll das mit offenem Visier fordern", so Felbermayr in Richtung Bonin.

Die Abschaffung der kalten Progression hat heuer dazu geführt, dass die Republik und Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) 1,9 Milliarden Euro weniger an Steuergeld eingenommen haben. 1,2 Milliarden Euro kostete die Anhebung der Steuertarifgrenzen um die Inflationsrate, etwas mehr als 600 Millionen wurden diskretionär verteilt, indem niedrigere Steuertarifgrenzen etwas höher angehoben wurden und gewisse Absetzbeträge, von denen Niedrigverdiener eher profitieren, stärker gestiegen sind. Für das kommende Jahr hat das Finanzministerium mit 2,5 Milliarden Euro an Mindereinnahmen gerechnet. Da die Inflationsrate höher ausgefallen ist als gedacht, dürfte die Steueranpassung deutlich teurer ausfallen.

Ökonomen wie Franz Schellhorn von der wirtschaftsliberalen Agenda Austria thematisieren immer wieder, dass der Staat durch hohe und ungezielte Hilfen die Inflation angefacht hat. Die Abschaffung der schleichenden Steuererhöhungen hatte so gesehen den gleichen Effekt – viel zusätzliches Geld erhalten einkommensstarke Haushalte. Das wird weniger oft debattiert.

Steuerpolitik
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Der grüne Budgetsprecher Jakob Schwarz hält auch wenig davon, die Anpassungen auszusetzen. Bonins Stoßrichtung sieht er aber als sinnvoll an: Das Drittel, das der Staat im kommenden Jahr frei verteilen kann, solle dazu dienen, Gruppen mit geringen Einkommen und jene, die von Teuerung besonders betroffen sind, zu entlasten, sagt Schwarz. Einen Automatismus gibt es hier übrigens nicht, Grüne und ÖVP müssen sich politisch darauf verständigen, was mit diesem Drittel geschieht. Ohne Einigung werden die Mittel eins zu eins in die Abgeltung der Progression gesteckt.

Bonins Idee stößt auch bei Oliver Picek vom linksliberalen Momentum-Institut nicht auf Begeisterung: Steuererhöhungen sollten kein Tabu sein, so Picek. Aber statt bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern anzusetzen, gebe es bessere Möglichkeiten, Stichwort Vermögens- oder Erbschaftssteuern.

Die Ökonomin Monika-Köppl Turyna vom Institut Eco Austria, das der Industrie nahesteht, schlägt eine andere Lösung für das von Bonin angesprochene Problem vor: die Steuern bei Hilfszahlungen wirken lassen. So gab es im vergangenen Jahr für jeden Erwachsenen 500 Euro Klima- und Antiteuerungsbonus. Den halben Betrag mussten Menschen, die über 90.000 Euro im Jahr verdienen, versteuern. Ein Fortschritt wäre es schon, den gesamten Betrag steuerlich zu erfassen, so die Ökonomin.

Aber Bonins Vorschlag hat auch Fans: Der Steuerexperte Peter Brandner von der Initiative Weisse Wirtschaft ist voll dafür. Eine solche Steuererhöhung wäre absolut richtig, wenn Experten wie Felbermayr behaupten, die aktuelle Inflation sei auch nachfragegetrieben. Die kalte Progression wirken zu lassen würde zudem nur die obere Hälfte der Einkommen zu spüren bekommen, "und das wäre ein eleganter Weg". (András Szigetvari, 2.6.2023)

Wie viel Geld soll den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern übrig bleiben? Die Debatte dazu läuft
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