Olga Tokarczuk
Schriftstellerin Olga Tokarczuk.
Lukasz Giza

In ihrer Rede zum Nobelpreis drückte die polnische Autorin Olga Tokarczuk 2019 ihre Besorgnis darüber aus, dass uns in einer Welt aus Bildschirmen und Apps etwas entgehen könnte. Als Kind hätten Flüsse und Wälder für sie noch je ein eigenes Wesen gehabt. Heutzutage sterbe die Welt, werde immer mehr zu einer leblosen Ansammlung von Ereignissen, unsere Spiritualität sei oberflächlich geworden und wir zu hörigen Zombies einfacher physischer, sozialer, wirtschaftlicher Kräfte, die uns leiten.

Nun hat Tokarczuk ihren ersten Roman seit der Auszeichnung vorgelegt. Empusion ist eine Schauergeschichte, in der sie all ihre Klagen einlöst. Die Liste der handelnden Personen zum Einstieg endet mit "Namenlose Bewohnerinnen der Wände, Böden und Zimmerdecken". Zwischendurch stellt sich auf den fast 400 Seiten die Frage: Kann die Landschaft töten? Nein, kann sie nicht. Letztlich fußt die Geschichte doch auf physikalischen Gesetzen.

Wiewohl der rationale Grund, auf dem sie steht, schwankt. Schauplatz ist ein Sanatorium in den schlesischen Bergen im Herbst 1913. Mieczy­sław Wojnicz, Mitte 20, Student des Lemberger Polytechnikums und Sohn eines pensionierten Beamten und Gutsbesitzers, ist der neueste Patient. Zierlich, blass und von melancholischer Stimmung, erscheint ihm die Welt zum Zerreißen bereit und er fühlt, dahinter fände man nichts. Die nächsten mindestens sechs Wochen soll er im Herrengästehaus der Besserung zustreben.

Illustre Runde

Man verkehrt hier miteinander, benebelt von einem Likör namens "Schwärmerei", wie in einer Puderwolke. Der Ort erweist sich zwischen frühem Aufstehen, unzähligen Mahlzeiten, vielen Spaziergängen, Champagner gegen Nervosität und Kognakmilch gegen Schlaflosigkeit als interessantes Biotop. Einerseits begeht die Ehefrau des Verwalters Selbstmord – so es ein solcher war. Denn der Verwalter soll sie stets erniedrigt und geschlagen haben.

Zum anderen versammelt sich hier eine illustre Runde, angeführt von einem Theosophen aus Breslau, einem Lehrer aus Königsberg und einem Philologen aus Wien, der sich zur Masturbation Nadeln in den Po sticht. Zum wichtigsten Vertrauten für Wojnicz wird Thilo, ein junger Kunststudent aus Berlin. Die beiden jungen Männer verbindet Zärtlichkeit. Sie stehen auch in fundamentaler Opposition zu den alten Redelsführern. Thilo hegt zudem die Theorie, dass ein Gutteil der Patienten sich nur krank stellt, um vor dem echten Leben abzutauchen.

Tokarczuk lässt bis zur Lächerlichkeit spleenige Charaktere interagieren. Sie zeigt eine am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu Recht dem Untergang geweihte Welt. Die Politik kümmert sie dabei aber weniger als das Patriarchat. Am intensivsten wird über die Anatomie von Frauengehirnen gequacksalbert, über deren "trügerische" Natur, übermäßige Emotionalität und dass ihr Leib, weil gebärfähig, nicht allein ihnen gehören kann. Geschlecht, seine Unterscheidungen und Zuschreibungen sind das Kernthema dieses tollen Kostümromans. Der Titel Empusion, eine Worterfindung, verweist auf weibliche Spukgestalten der griechischen Mythologie.

Alternativer "Zauberberg"

Tokarczuk liefert ein Panorama der aus Biologie und Esoterik gespeisten Misogynie um 1900, das sie im Anhang als Collage namhafter historischer Männer ausweist. Damit geht eine latente Homosexualität in Teilen dieser Männerrunde einher. Zu bekritteln, dass eine weibliche Perspektive fehlt, ist angesichts der herrlichen Satire kleinmütig. Tokarczuk erzählt eine bis zuletzt spannende, furios ineinandergesteckte Geschichte. Als die Erzählgeister einmal kundtun, nichts mehr von Geranienkästen, Spuckeimern und Postkarteninhalten mitteilen zu wollen, findet man es schade. Egal, was die Autorin schildert, sie tut es auf interessante Weise.

Parallel zur Aufklärung rätselhafter Todesfälle läuft eine intimere Spurensuche ab: Man arbeitet sich langsam zur Erkenntnis vor, dass Wojnicz geschlechtlich nicht eindeutig Mann ist. Vor allem fügt sich das nahtlos in die Patriarchatskritik.

Es muss endlich angemerkt sein, dass Empusion von der Bluthusterei bis hin zu biografischen Ähnlichkeiten (ohne Mutter aufgewachsen, technischer Beruf) vielfach spielerisch auf Thomas Manns Zauberberg referenziert. Aber Tokarczuk lässt ihren jungen Helden gänzlich anders aus der Sanatoriumserfahrung hervorgehen als Hans Castorp. Statt in die Verfahrenheit der Alten zu taumeln, lässt sie ihn jene überwinden. (Michael Wurmitzer, 6.6.2023)