Im Community-Artikel zeigt der Historiker Tobias Eder, wie die Aktivitäten rund um den Feiertag einen Blick auf unsere Gesellschaft ermöglichen.

Fronleichnamsprozessionen verändern sich ungern. Wer den Feiertag nicht nutzt, um lange auszuschlafen, kann jährlich beobachten, wie sich eine Menge oder doch nur eine Handvoll Menschen durch die Straßen bewegt, verstaubte Fahnen schwenkt und manchmal sogar singt. Für unbeteiligte Beobachtende nicht minder befremdlich schreitet dem Umzug ein Priester unter einem Baldachin voran, in seinen Händen ein goldenes Gefäß, und unmittelbar dahinter häufig lokale Politiker und Politikerinnen.

Eigentlicher Zweck dieser römisch-katholischen Prozession ist es, an die Stiftung der Eucharistie durch Jesus Christus zu erinnern, oder einfacher ausgedrückt daran, dass Jesus sein Leben am Kreuz geopfert hat und auferstanden ist. Dies wird genauso in jeder römisch-katholischen Sonntagsmesse ins Bewusstsein gerufen, wenn Wein und Hostie unter den Gläubigen geteilt werden. Wein und Hostie erinnern dabei nicht nur symbolisch an Jesu Tod und Auferstehung – Jesus ist darin "real gegenwärtig", sprich persönlich anwesend. Das goldene Gefäß, das der Priester an Fronleichnam voranträgt, die sogenannte Monstranz, ist daher alles andere als Zierde, sondern ein prunkvolles Schaugefäß für die Hostie. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass sich das unangefochtene Zentrum jeder Fronleichnamsprozession unter dem erwähnten Baldachin befindet, wo der Priester die Monstranz samt Hostie und damit Jesus Christus auf Händen trägt.

Am Ablauf dieses Spaziergangs mit Jesus Christus hat sich im Grunde nichts verändert, seitdem die Prozession im 15. Jahrhundert fester Bestandteil des Fronleichnamsfests geworden war. Fronleichnamsprozessionen wirken daher nicht nur etwas aus der Zeit gefallen, sondern auch unveränderlich, beinahe statisch. Und dennoch beschäftigt sich die Kulturwissenschaft seit Jahrzehnten immer wieder mit scheinbar unveränderlichen Ritualen wie jenem an Fronleichnam. Sie tut dies, weil derartige Rituale nur scheinbar unveränderlich sind. Tatsächlich erzählen sie immer mehr als lediglich von ihrem eigentlichen Zweck. In der Vergangenheit lassen sich dafür zahlreiche Beispiele finden.

Fronleichnam als öffentliche Inszenierung

So etwa auf einem Aquarell aus dem Jahr 1838, das die Fronleichnamsprozession im niederösterreichischen Perchtoldsdorf abbildet. Wer hier nach dem Zentrum der Prozession sucht, benötigt Geduld, ist der Baldachin über Priester und Monstranz doch lediglich am linken Bildrand im Hintergrund zu finden. Im Vordergrund und deutlich zu erkennen: Perchtoldsdorfs malerischer Hauptplatz und insbesondere seine Bevölkerung, die wohlhabend anmutet. Nicht den religiösen Gehalt der Fronleichnamsprozession wollte der Maler wohl darstellen, sondern die Perchtoldsdorfer Stadtgesellschaft. Dies zeigt, dass Fronleichnamsprozessionen immer etwas über die Gesellschaften aussagen, in denen sie stattfinden. In diesem Fall über die Perchtoldsdorfer Gesellschaft, die die Fronleichnamsprozession offenbar nutzte, um sich selbst und ihren Wohlstand darzustellen. Generell boten und bieten Prozessionen wie Fronleichnam den Einwohnern und Einwohnerinnen einer Gemeinde immer die Möglichkeit, sich selbst öffentlich zu präsentieren – gesellschaftliche Hierarchien miteingeschlossen.

Aquarell der Fornleichnamsprozession, viele Menschen auf einem Hauptplatz
Jakob Alt, Fronleichnamsprozession in Perchtoldsdorf (1838).
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Fronleichnam und die große Politik

Ritualen wie Fronleichnam kann allerdings immer auch politische Funktion zukommen, obwohl ihr eigentlicher Zweck ein religiöser ist. Deutlich zu sehen ist dies auf Fotografien der Fronleichnamsprozessionen, die Ende des 19. Jahrhunderts vom Wiener Stephansdom ausgingen. Einige Aufnahmen zeigen den Prozessionszug am Wiener Graben. Unmittelbar hinter dem Priester mit der Monstranz und damit unmittelbar hinter Jesus Christus: Kaiser Franz Joseph, Staatsoberhaupt der Habsburgermonarchie. Zufall war dessen Position im Prozessionszug freilich nicht. Mit der räumlichen Nähe zu Jesus Christus zeigte der Kaiser nicht nur seine Gottesfurcht, sondern legitimierte zugleich auch seine Herrschaft – er erschien so als Kaiser "von Gottes Gnaden", seine Herrschaft als göttlicher Wille. Und wer wollte dem Willen Gottes schon widersprechen?

Schwarz-Weiß Aufnahme einer Prozession, im Hintergrund Geschäftslokale.
Fronleichnamsprozession von St. Stephan auf dem Wiener Graben. (1899)
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Von dieser Anordnung des Prozessionszugs profitierte allerdings nicht nur der Kaiser, sondern genauso die römisch-katholische Kirche, deren Vertreter sich ja ganz nahe am Staatsoberhaupt befanden. Der Kirche wurde so symbolisch eine wichtige Rolle für Staat und Herrschaft zugewiesen, die ihr auch realpolitisch zukam. Die enge politische Allianz zwischen Staat und Kirche war ein wesentliches Merkmal der späten Habsburgermonarchie im 19. und 20. Jahrhundert. Die Fronleichnamsprozessionen von St. Stephan Ende des 19. Jahrhunderts berichten eindrücklich von diesen politischen Machtverhältnissen und Formen der Herrschaftslegitimation.

Ringen um die Teilnahme von Kindern

Auch im 20. Jahrhundert blieben die Fronleichnamsprozessionen politisch. Im Österreich der 1920er-Jahre hatten Sozialdemokratie und Christlichsoziale höchst unterschiedliche Auffassungen davon, welche Rolle die Kirche im Staat einnehmen sollte. Während die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen Kirche und Staat trennen wollten, stießen sich die Christlichsozialen nicht an deren enger Verbindung, die noch aus der Habsburgermonarchie herrührte. Heiß debattiert wurde unter anderem der Einfluss der Kirche im Schulwesen und somit auf Kinder und Jugendliche. Davon erzählen beispielsweise jene Fronleichnamsfeiern, die in den 1920er-Jahren im industriellen und sozialdemokratisch geprägten Wiener Neustadt stattfanden. Römisch-katholische Kirche und Christlichsoziale Partei warben unter der Bevölkerung für die Teilnahme an der Fronleichnamsprozession, der die örtliche Sozialdemokratie eigene, zeitgleiche Veranstaltungen entgegensetzte. Die Beteiligung an Fronleichnamsprozession oder sozialdemokratischer Veranstaltung sollte öffentlich die Unterstützung der Bevölkerung für die kirchenpolitischen Anliegen von Kirche und Christlichsozialen oder Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen zeigen. Was kindisch klingt, war zeitgenössisch hochernst und keinesfalls ein Wiener Neustädter Unikum.

Besonders bedeutsam in diesem Ringen um Beteiligung waren Kinder und Jugendliche, die in den Schulen je nach politischer Position weiterhin oder nicht mehr unter kirchlichem Einfluss stehen sollten. Dementsprechend appellierte das christlichsoziale Lokalblatt Wiener Neustadts 1923: "Katholische Eltern! Der göttliche Kinderfreund ruft Eure Kinder. Haltet sie dem religionsfeindlichen Unternehmen ferne und schickt Eure Kinder vollzählig zur Fronleichnamsprozession!"1 Als "religionsfeindliche(s) Unternehmen" verstanden die Christlichsozialen selbstredend die zeitgleiche Veranstaltung der Sozialdemokratie. Die wiederum forderte in ihrem Lokalblatt "alle Genossen und Genossinnen auf, dafür Sorge zu tragen, daß die Kinder aller jener Eltern, die sich von der Kirche innerlich freigemacht haben, dem Demonstrationsumzug der Pfaffen fernbleiben."2 Sie sollten stattdessen an einem Ausflug der Sozialdemokratie teilnehmen. Der "Demonstrationsumzug" war aus sozialdemokratischer Sicht natürlich die Fronleichnamsprozession. Die Sozialdemokratie sprach selbiger ab, überhaupt noch einen religiösen Zweck zu haben und meinte, sie diene der Kirche lediglich dazu, öffentlich für den Erhalt ihrer politischen Position zu werben.

Ob man diese sozialdemokratische Kritik nun teilt oder nicht, offensichtlich ist, dass die Wiener Neustädter Fronleichnamsprozessionen der 1920er-Jahre deutlich mehr erzählen, als Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi: Sie zeigen, wie zeitgenössisch um das Verhältnis von Kirche und Staat gerungen wurde und wie die Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an der Fronleichnamsprozession auch politische Loyalitäten zur Schau stellen konnte.

Fronleichnam und Gesellschaft

Derartig politisch aufgeladen sind heutige Fronleichnamsfeiern freilich nicht. Auch die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat ist im Wesentlichen geklärt. Und dennoch können uns Fronleichnamsprozessionen nach wie vor verschiedenes zeigen. Zum Beispiel, wie religiöse Anlässe unseren heutigen Feiertags- und Festkalender immer noch prägen, was wiederum die Frage aufwirft, welcher Stellenwert Religion und Kirche in unserer Gesellschaft eigentlich zukommt. Gegenwärtige Fronleichnamsprozessionen können aber gleichsam kleine, lokale Geschichten über Gesellschaft in sich beinhalten: Vor mittlerweile einigen Jahren fand etwa in Vösendorf, einem Wiener Vorort, die Fronleichnamsprozession nicht wie gewöhnlich im Ortskern statt, sondern in einer Reihenhaussiedlung deutlich jüngeren Datums, wo mehrheitlich neu zugezogene Familien leben, im Gegensatz zum Ortskern mit der alteingesessenen Bevölkerung. Diese erste und letzte Fronleichnamsprozession in besagter Reihenhaussiedlung erzählt so von jenen unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Vösendorfer Gesellschaft – und womöglich ebenfalls vom Versuch eines Pfarrers, wenn nicht zwei Welten, zumindest zwei sehr unterschiedliche Ortsteile einander näherzubringen.

Die Vergangenheit zeigt: Wenn auch der Ablauf von Fronleichnamsprozessionen immer derselbe ist, können sie uns doch einiges erkennen lassen. Nicht, weil sie selbst ihre Gestalt verändern, sondern weil die Gesellschaften, in denen sie stattfinden, sich verändern. Es sind aber eben jene Gesellschaften, über die uns Rituale wie Fronleichnam immer Auskunft geben können. Und wer anstatt lange auszuschlafen am Fronleichnamstag eine Prozession besucht, kann sich dabei immer auch fragen: Was erzählt diese Fronleichnamsprozession? (Tobias Eder, 8.6.2023)